Im Zeitalter des Wassermanns

Überzeugendes „Hair“-Revival in Bonn

von Peter Bilsing/Bec.

© Polydor
Vietnam ist gegenwärtig
 
Überzeugendes „Hair“-Revival in Bonn
Premiere am 11.November 2011
 

Musikalische Leitung: Michael Barfuß - Inszenierung: Philipp Kochheim - Choreographie: Alonso Barros - Bühne: Thomas Gruber - Kostüme: Bernhard Hülfenhaus - Licht: Thomas Roscher / Max Karbe - Dramaturgie: Michaela Angelopoulos - Fotos: Alle Bilder sind von © Thilo Beu, Hochkreuzalle 104, 53175 Bonn
Musiker: Olaf Krüger, Trompete - Lothar van Staa, Saxophon - Ludwig Goetz, Posaune - Peter Engelhardt, Gitarre - Marcus Schinkel, Keyboards - Sascha Delbrouck, Bass - Marc zur Oven, Percussion - Stefan Lammert, Schlagzeug
Besetzung: Claude Hooper Bukowsky, Markus Schneider -  Donna Bukowsky, Ursula Anna Baumgartner - Mrs. Bukowsky, Sonja Mustoff - Mr. Bukowsky, Carlo Ghirardelli - Berger, Henrik Wager -  Woof, Christof Maria Kaiser - Hud, Alvin Le-Bass - Jeannie, Peggy Pollow - Steve, Kristian Lucas - Dionne, Tertia Botha - NaÏma, Jennifer Sarah Boone - Cecilia, Miriam Cani - Chastity, Tina Ajala - Crissy, Kun Jing - Sheila, Maricel - Che, Philipp Georgopoulos - Shiva, Ico Benayga - Humphrey, Julian David - Cosma, Beatrix Gfaller - Alissa, Miruna Mihailescu - Zoe, Susan Ten Harmsen - Sumatra, Michael Höfner - Tamati, Olaf Reinecke - Pitú, Wanderson Wanderley
 
Credo: "When the moon is in the Seventh House - And Jupiter aligns with Mars - Then peace will guide the planets - And love will steer the stars. This is the dawning of the age of Aquarius - The age of Aquarius - Aquarius! Harmony and understanding - Sympathy and trust abounding - No more falsehoods or derisions - Golden living dreams of visions - Mystic crystal revelation - And the mind's true liberation - Aquarius! Aquarius!"
 

Foto © Thilo Beu

Kann ein Musical, welches in den 60ern den Zeitgeist so ungestüm und bewegend wiedergegeben hat wie kein anderes, heute noch jemanden berühren? Ist die Zeit von "Hair" nicht hoffnungslos vorbei? Ist dieses "American Tribal Love/Rock Musical" heute nicht nur noch Museum, quasi eine Hitparade ausgelutschter Schlager und Hippie-Songs? Uralt-Hitparade für gruftige 68er und hemmungslose Flower-Power-Nostalgiker? Heute hat man bei uns die Wehrpflicht abgeschafft, um Geld zu sparen. Damals war es hier wie in Amerika geradezu ein Staatsverbrechen, sich dem Zugriff der Militärs zu entziehen, weil man zum einen nicht sterben wollte, zum anderen den Frieden mehr liebte als den Krieg. Das ist der Konflikt der beiden männlichen Protagonisten in Hair: den Hippies Berger und Bukowsky, die sich gegen Gewalt und Krieg zunächst gemeinsam auflehnen, bis Bukowski sich nicht mehr den Zwängen der Gesellschaft entziehen kann und sich doch zum Militär meldet. Sein Weg wird nach Vietnam und in den Tod führen.
 

Foto © Thilo Beu
"Ripped open by metal explosion - Caught in barbed wire - Fireball - Bullet shock - Bayonet - Electricity - Shrapnel throbbing meat - Electronic data processing - Black uniforms - Bare feet carbines - Mail-order rifles shoot the muscles ... Prisoners in Niggertown - It's a dirty little war - Three Five Zero Zero - Take weapons up and begin to kill - Watch the long long armies drifting home"
 
Oder brauchen wir Texte wie diesen gerade heute? Was hat sich geändert seit Vietnam? Müßten uns nicht angesichts solch prekärer Zeilen und der Realität in Afghanistan und im Irak geradezu die Tränen in die Augen schießen? Ja, das sind böse Worte, die Gerome Ragni und James Rado da im Jahre 1968 in bestürzend schöner und auf den ersten Blick recht oberflächlicher Schlagermusik untergebracht haben.
 
"Sodomy - Fellatio - Cunnilingus - Pederasty -Father, why do these words sound so nasty? - Masturbation can be fun - Join the holy orgy Kama Sutra - Everyone!"
 
Holla! Da beschlägt doch heute noch jedem CDU/CSU-Hinterbänkler die Lesebrille und der Ruf nach Verbot keimt auf - da braucht es dann keine Nacktheit auf der Bühne mehr (1968 gab es tatsächlich mehrere Strafanzeigen bzw. Verbotsanträge durch die Kirche und zusätzlich von durch Nacktheit geschockten Zeitgenossen!), um den Bischof oder päpstliche Gesandte auch heute noch auf den Plan zu rufen. "Sauerei!"
 
War es nicht der in tolle Musik gefaßte Hilferuf und Aufschrei einer Vielzahl der Amerikaner über den Wahnsinn des Vietnam-Krieges, der drei Millionen Menschen das Leben kostete, darunter 58.193 amerikanische Soldaten? Fast 45.000 von ihnen waren nicht älter als 25, knapp ein Drittel waren zum Zeitpunkt ihres Todes erst 20 Jahre alt.  Es war ein musikalisches Credo der Massenproteste, aber auch der harmlosen Blumenkinder, naiv protestierender Ho-Chi-Minh-Rufer, sowie ernsthafter Antikriegs-Protestler und Wehrdienstverweigerer, die für ihre Proteste in den Knast gingen. Das war ein Jahr vor Woodstock.

Foto © Thilo Beu
Das alles und noch viel mehr war damals für uns "Hair". Der Rezensent, ebenfalls Alt-68er, war dabei und gibt zu, daß diese Musik ihn geprägt hat, mehr als Wagners "Götterdämmerung". Zumindest in Deutschland gab man "Hair" in damals fabelhafter Besetzung, und man hatte (welch Wunder!) sogar eine sehr gute und auch sangbare deutsche Übersetzung geschaffen. Su Kramer, Reiner Schöne, Ron Williams, Jürgen Marcus (!) als Claude sowie u.v.a. Donna Summer oder Liz Mitchell; hier traf sich das "Who is Who" der anspruchsvollen Schlagerwelt live und begeisterte Millionen Zuschauer wie am fernen Broadway. "Hair" wurde ein Welterfolg, wie vorher kein anderes Musical. Das ungeheure musikalische Potential der Songs erschöpft sich bis heute in Hunderten von Remakes.
Insoweit ist es nicht hoch genug zu bewerten, was schon allein auf der musikalischen Seite in Bonn (Gemeinschaftsproduktion mit Kassel und Mannheim) geboten wird. Die Songs sind bravourös neu eingerichtet, und die phantastische Band unter Leitung von Michael Barfuß fetzt aus dem Orchestergraben, was das Zeug hält. Endlich einmal kommt die Musik wie bei einem Popfestival auch laut genug rüber. (Bitte nicht nach Zuschauerbeschwerden runterdrehen. Bitte nicht!) "Hair" muß laut sein, will laut sein und muß auch einmal übers Zwerchfell erschüttern bzw. subkutan wahrgenommen werden. Gratulation Jungs! Besser klang es auch 1968 nicht.
 
Das Stück heute zu inszenieren, erfordert nicht nur Feingefühl, sondern der Regisseur muß auch zeigen, warum uns dieses Musical noch soviel Arbeit, Engagement und Zeit wert ist. Es ist der Versuch einer Art Quadratur des Kreises, und die gelingt Regisseur Philipp Kochheim und seinem Team auf geradezu geniale Art und Weise, indem er z.B. historische Momente per Video einblendet. Wir sehen Bilder, welche die Welt bewegten. Ob John F. Kennedys verlogenes Weltmacht- und Friedengegefasel, Martin Luther Kings bewegende „I have a dream“-Rede oder Bilder aus Vietnam, wo US-Kampflugzeuge das alles vernichtende Agent Orange versprühen, welches unendliche schöne Landflächen nicht nur auf 100 Jahre entlaubte, sondern auch Hunderttausende unschuldiger vietnamesische Bauern vergiftete bzw. deren Nachwuchs verkrüppelte. Eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte! Das läßt erschauern zwischen so schöner Musik und so anscheinend harmlosen Hippies.
Das Regieteam bricht auch mit kleinen aber gekonnt arrangierten Zwischenszenen ins friedliche Blumenkinderleben ein; es sind nicht nur historische Apercus sondern auch geschickt eingesetzte Flashbacks, wenn Massenmörder Charles Manson auftritt und eine blutüberströmte Sharon Tate über die Bühne wankt, Rhett Butler Scarlett O´Hara anhimmelt, Popeye zuschlägt, Andy Warhol wild herumfotografiert, Timothy Leary im Rausch über LSD faselt und die "Original"-Supremes singen; es gibt Jane Fonda als Barbarella, Stanley Kowalski, Blanche Dubois, Allen Ginsberg, John Lennon und Dick Clark; Abraham Lincoln darf natürlich nicht fehlen, und auch Elvis lebt noch. Kochheim bringt uns jüngste Zeitgeschichte nahe - wir erleben wir den Zeitgeist der 68er und tauchenin die Vergangenheit ein.


Foto © Thilo Beu

Regisseur Philipp Kochheim gelingt es, auch den heikelsten Moment dieses Hair-Musicals zu inszenieren, nämlich den vielkritisierten offensichtlich viel zu positiven Schluß ("Let the Sunshine in"), wird hier nicht verraten. Nur soviel: es ist ähnlich überragend gelöst wie in Milos Foremans Filmumsetzung, mit der diese Inszenierung allerdings nichts gemeinsam hat, denn sie basiert auf der Broadway Theaterversion. Ein Schluß, der so einfühlsam wie emotional gemacht ist und tief berührt.

"We starve-look - at one another - short of breath - walking proudly in our winter coats - Wearing smells from laboratories - facing a dying nation - of moving paper fantasy - Listening for the new told lies - with supreme visions of lonely tunes - Somewhere - Inside something there is a rush of - Greatness who knows what stands in front of - Our lives - I fashion my future on films in space - Silence tells me secretly -E verything ... Eyes look your last across the Atlantic Sea - Arms take your last embrace and I'm a genius genius - And lips oh you the doors of breath - I believe in God - Seal with a righteous kiss and I believe that God believes in Claude -That's me, that's me, that's me - The rest is silence"
 
Die Sänger-Crew bringt sich bravourös ein, denn die Stücke sind teilweise von hohem sanglichem Schwierigkeitsgrad. Wobei über einige Sangesschwächen großzügig hinweg gesehen werden

Foto © Thilo Beu
konnte, denn es kam hier mehr auf die Typisierung von Personen an, als auf das korrekte hohe H oder C, welches Opernkritiker anmerken werden. Besser kann man dieses immer noch tolle Musical kaum in Szene setzen. Die Karten für die wenigen Folgevorstellungen bis Mai 2012 werden schnell verkauft sein. Daher mein Appell an alle 68er, fröhlichen Greise und jung gebliebene Herzen: Bitte flugs buchen! So schnell wird man selten wieder 40 Jahre jünger.
 
 
Der Opernfreund-DVD-Tip: www.amazon.de/Hair-John-Savage/

Milos Foremanns Meisterwerk: Zur Zeit für 5,50 Euro bei Amazon. Zur Vorbereitung bestens geeignet. Doch Achtung! Foremans Geschichte weicht von der Original Hair-Vorlage ab - es ist halt ein Film. Nichtsdestotrotz ein begnadeter Film. Ebenfalls 5 Sterne! 

Redaktion: Frank Becker