„La Boheme“ im Puccini-Land NRW

Lohnende Produktionen in Wuppertal und Düsseldorf

von Peter Bilsing

Sylvia Hamvasi - Foto © Sonja Rothweiler
„La Boheme“ im Puccini-Land NRW
 
Zwei lohnende Produktionen
in Wuppertal und Düsseldorf
 
Premiere Wuppertaler Bühnen, 19.September 2010
Premiere DOR Düsseldorf, 24.September 2010
 
 
 
Aufführung der Wuppertaler Bühnen:
Musikalische Leitung: Hilary Griffiths – Inszenierung: Jan David Schmitz - Bühne und Kostüme: Carolin Roider – Choreinstudierung: Jens Bingert – Dramaturgie: Johannes Blum - Fotos: Sonja Rothweiler
Besetzung: Rodolfo: Iago Ramos – Mimi: Sylvia Hamvasi – Marcello: Kay Stiefermann – Musetta: Elena Fink – Schaunard: Olaf Haye – Colline: Michael Tews - Benoit/Alcindoro: Aldo Tiziani – Parpignol: Jung Wook Kim – Sergeant: Javier Horacio Zapata Vera 
Chor Opernchor, Extrachor, Kinderchor und Statisterie der Wuppertaler Bühnen - Sinfonieorchester Wuppertal 
 
Aufführung der Deutschen Oper am Rhein:
Musikalische Leitung: Christoph Altstaedt - Inszenierung: Robert Carsen - Bühne und Kostüme: Michael Levine - Licht: Jean Kalmann - Spielleitung: Frans Willem de Haas - Chorleitung: Christoph Kurig - Chorleitung Kinderchor: Petra Verhoeven – Dramaturgie: Ian Burton – Choreografie: Michael Popper - Fotos: - Hans Jörg Michel
Besetzung:  Rodolfo: Giuseppe Varano - Schaunard: Richard Sveda - Marcello: Laimonas Pautienius - Colline: Adrian Sâmpetrean - Benoit: Peter Nikolaus Kante - Mimi: Nataliya Kovalova - Musetta: Iulia Elena Surdu - Alcindoro: Peter Nikolaus Kante - Sergeant: Clemens Begritsch - Parpignol: Dmitry Trunov - Zöllner: Franz-Martin Preihs
Kinder u. Jugendchor St. Remigi - Orchester Duisburger Philharmoniker
 
Puccini!
 
Puccini ist, Gott-sei-Dank, wieder heimisch in und an unseren NRW-Opernhäusern. Auftakt Aachen mit „Madama Butterfly“, dann gleich zwei Premieren binnen einer Woche von „La Boheme“, danach „Turandot“ in Bonn, es folgt das komplette „Il Tritticio“ am 9. Oktober in Dortmund, die Vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach bringen „Le Villi“ neben „Schwester Angelika“, und in Wuppertal läuft weiterhin „Gianni Schicchi“. Am 5. November ein Schmankerl und mein Boheme-Geheimtipp, wird auch am Aalto-Theater Essen eine der schönsten Boheme-Inszenierungen, Regie: Silviu Purcarete, mit toller Besetzung wieder aufgenommen. http://www.aalto-musiktheater.de/wiederaufnahmen/la-boheme.htm
 
Positives zum Auftakt der Saison

Viel und überwiegend Positives gibt es über den Puccini-Saisonauftakt in Wuppertal und Düsseldorf zu berichten. Um es gleich vorweg zu nehmen: Sowohl sängerisch, als auch orchestermäßig wird an beiden Häusern bester glutvoller Puccini geboten. Daß hier die Wuppertaler Bühnen, die nicht einmal über den halben Etat des Nachbarhauses verfügen, qualitativ dermaßen hörenswert mithalten können, grenzt für mich immer wieder an ein Wunder (siehe auch meine Besprechung der Florentinischen Tragödie). Alles in allem aber wieder einmal Beweis für die funktionierende größte Theaterdichte dieser Welt in unserem NRW – fern von all diesem fürchterlich künstlich hoch-gepuschten Kulturhauptstadt-Geplänkel in und um die größenwahnsinnige Pleitemetropole Essen oder den Starkult in den internationalen Spitzenhäusern; Stichwort: „Wenn die Garanca nicht singt, komme ich erst gar nicht!“ Da ist das Publikum hier anders, wir sind in Sachen Oper an allem interessiert, egal wer singt, Hauptsache gut. NRW ist in Sachen Oper also immer noch eine lohnende Reise wert.
 
Das Düsseldorfer Bild

Die Düsseldorfer Boheme ist eine recycelte Fassung, die Regisseur Robert Carsen in den

Die Boheme in Düsseldorf - Foto © Hans Jörg Michel
Neunzigern schon innerhalb seines Puccini-Zyklus an der Vlaamse Opera Amsterdam produziert hatte. Der erste Akt spielt auf leerer schneebedeckter Bühne, wobei Bühnenbildner Michael Levine in der Mitte ein Quadrat freigelassen hat, welches als Zentrum der Handlung das Innere der Künstlermansarde mit realem Mobiliar darstellt; nahtloser Übergang zum 2.Akt, indem Eis und der Schnee an vielen Stellen aufgebrochen werden und eine bunte Schar von Menschen sich nun über die Bühne ergießt, dekoriert wie in Dickens´ antikem Weihnachtsmärchen mit viel Plüsch und Plunder – fast zuviel von allem. Im dritten Akt dann die absolute Bühnenaskese: einzig ein dunkles Gebäude mit Fenster auf sonst leergeräumter dunkler Ebene; die Szene wird allein durch die fabelhafte Lichtregie von Jean Kalmann gestaltet. Der letzte Akt ist die Umkehrung des ersten, statt Schnee und Eis nun ein frühlingshaftes Blütenmeer von Tulpen, eine sicherlich ungewollte Reminiszenz an Pina Bauschs „Nelken“. Am Ende verlassen die Freunde das Wohn- und Lebensquadrat und schreiten trauernd in alle vier Himmelsrichtungen durchs Blütenmeer davon. Der Tod Mimis hat das Leben aller verändert, nichts wird wieder so sein, wie vorher – vielleicht das Ende des Künstlerlebens? Ein sehr gelungenes Finalbild.
 
Die Wuppertaler Optik

In Wuppertal überwiegt szenischer Armuts-Realismus, was die reale Mülltonne am Bühnenportal

Die Boheme in Wuppertal - Foto © Sonja Rothweiler
schon avisiert. Eine mit Plastikfolie überzogene Bretterbude auf Stelzen, unterhalb wird Mimis Domizil als winziger Verhau, einziges Requisit ein billiger Ölradiator, erkennbar. Schäbige Öde auf schmutziger Leinwand (Bühne: Carolin Roider). Marcello pinselt ständig und wandbreit „bereichert Euch!“ auf die Rückwand. Auch hier Aktwechsel bei offenem Vorhang, während die Bohemiens das ganze Zimmer mühsam nach hinten schieben, fährt wie von Geisterhand ein Plateau herein, welches das Interieur des Cafe Momus stilisieren soll, Tische und als einziges Dekor ein riesiger, einem Weihnachtsbaum angenäherter Champagner-Gläser-Brunnen. Natürlich kollidieren beide Elemente und verhaken sich – die üblichen Bühnenpannen einer Premiere. Vermeidbar? Auf jeden Fall, warum zieht man nicht einfach den Vorhang zu? Der dritte Akt ist gestaltet wie der zweite und im Finale befinden wir uns wieder im selben schäbig armseligen Stelzenzimmer unserer Künstler, wie am Anfang. Schön anzusehen ist das nicht, aber was ist schon schön auf dieser Welt außer Puccinis Musik?
 
Phänomenale Stimmen hier wie dort


Elena Fink, sylvia Hamvasi, Iago Ramos - Foto © Sonja Rothweiler
Gesungen wird überall phänomenal gut, keine Ausfälle, kein Anlaß zu irgendwelcher Kritik, das Herz und die Seele des Kritikers und Puccini-Fans strahlten. Grandiose Besetzung aller Bohemiens und überall eine treffliche Musetta; Elena Fink (W) mit kleinem Vorsprung vor Julia Elena Surdu (D). Wobei ich auch dem Wuppertaler Rodolfo, Lago Ramos, aufgrund seiner wunderbar hochgelegenen und stellenweise an Pavarotti erinnernden Tessitura gegenüber seinem recht kraftvoll singenden Kollegen Giuseppe Varano, der eher einem lyrisch leicht reduziertem Domingo ähnelte, bevorzuge. Beide haben sich aber höchsten Respekt verdient, da sie sich schonungslos und notengerecht in die Partien warfen. Respektvolle Bravi-Rufe für beide waren ausgesprochen verdient.
 
Mimi herzergreifend

Auch bei der Besetzung der Mimi war die Unterscheidung in der Besetzung beachtlich. Für mich ist die Düsseldorfer Mimi von Nataliya Kovalova mit ihrer relativ schweren Stimme eher eine Tosca-Besetzung, an die auch ihre Art der Interpretation erinnert, während man in Wuppertal mit Sylvia Hamvasi eine Idealbesetzung hatte. Zerbrechlich, feinsinnig und anrührend gestaltet sie ihren Part, aber dennoch mit den nötigen Kraftreserven bei den großen Ausbrüchen („Sola, mi fo…“ z.B.).

Die Boheme in Düsseldorf - Foto © Hans Jörg Michel
Herzergreifend aber sterben beide, da bleibt kein Auge trocken. Insgesamt ein kleiner Vorsprung für Wuppertal und für dessen harmonischeres Ensemble, was sich beim genialen Quartett im dritten Akt hörbar deutlich machte.
 
Mit Hillary Griffith und noch mehr mit dem neuen Düsseldorfer Dirigenten Giordano Bellincampi trumpften zwei Maestros auf, die ihren Puccini nicht nur perfekt einstudiert hatten, sondern auch mit dem erforderlichen Rubato zelebrierten, sowie den nötigen Herzschmerz im Publikum erzeugten. Die Musiker folgten brav. Das ist Puccini – so muß Puccini gespielt werden! Bravo, bravissimo! Ein Glücksfall.
 
Ein Fazit:

Das schönere Bühnenbild an der Rheinoper Düsseldorf gleicht den leichten gesanglichen Vorsprung der Wuppertaler Bühnen wieder aus. Unentschieden! Daß wir aber im Abstand von 30 Minuten Fahrzeit – egal ob mit Auto oder Bahn – zwei so hochkarätige Inszenierungen zum Saisonauftakt in NRW erleben durften, lies das Herz des OPERNFREUNDes frohlocken. Selten hat eine Saison schöner und stimmungsvoller angefangen. Oper kann doch soooo schön sein!


Die Boheme in Düsseldorf, Letzter Akt - Foto © Hans Jörg Michel

Pressefotos: Sonja Rothweiler (W), Hans Jörg Michel (D)
 
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de  und  www.rheinoper.de

Redaktion: Frank Becker