Ein Orchester auf dem Gipfel
der Alban-Berg-Interpretation Stefan Soltesz´s geniale Lulu-Interpretation neben Dietrich Hilsdorfs uninteressanter Inszenierung „Lulu“ (Originalfassung) Premiere am Essener Aalto, 23.1.2010
Zunächst das Positive: Keine Zwangsabtreibungen, kein blutiger Fötus mehr, keine umgehängten Judenschilder, Kreuze fallen nicht mehr vom Himmel, selbst der obligate Kotzeimer und der früher stets omnipotente Bischof und die Barbusige fehlen. Auch irritieren keine nichtvorgesehenen Darsteller. Das soll der alte Hilsdorf sein?
Lulu langweilig vom Blatt inszeniert
Wir erleben in Essen eine „Lulu“ vom Blatt inszeniert. Harmloser hätte Otti Schenk die Geschichte
Langweiliger, langatmiger und uninteressanter hat man das Stück selten gesehen. Um es vielleicht positiver auszudrücken: Oper für Opernanfänger. Handwerklich schon o.k., aber wer die atemberaubenden Produktionen des früher genialen Regisseurs kannte, ist maßlos enttäuscht. Ausgebrannt, ideenlos und dröge wirkt alles. Die Arbeit eines Reiseregisseurs, die auf mich den Eindruck erweckt, daß er an seinem Lebensabend noch schnell möglichst viele und gutbezahlte Arbeiten abzuliefern hat. Das Markenzeichen Dietrich Hilsdorf ist verblaßt. Die immergleichen Bühnenbilder von Johannes Leiacker evozieren nur schlichtes Déjavu. Und so verwundert es wenig, daß der ehemalige Skandalregisseur, der auch gerne mal seinem verstört buhenden Publikum mit dem Mittelfinger durch den Hosenschlitz zugewinkt hat, sich nun nicht einmal mehr traut (zum sichtlich großen Ärger des General-Intendanten!) vor den Vorhang zu treten und für seine Provinzinszenierung gerade zu stehen. Angst vor den eigenen Fans? Das ist schon skurril und einmalig. Hilsdorf…vergessen!
Aber die Musik: atemberaubend!
Ganz anders die musikalische Seite, denn die ist wirklich atemberaubend. Stefan Soltesz fabuliert mit den Essener Philharmonikern ganz Großes, man erklimmt gemeinsam den Zenit Alban Bergscher Musikinterpretation. Elektrisierend, sirrend, ekstatisch und von zupackend monumentaler Wucht – das ist einmalig, so hat man das Werk praktisch nie gehört. Kein Stimmungsbild ist geschönt, wie bei den Wiener Philharmonikern z. B. – kein Eruptivo geglättet. Die Musik fällt wie eine Raubkatze förmlich und verschlingend brutal, aber auch schön und stellenweise lyrisch, über den Zuschauer her. Ein unendlicher Spannungsbogen, der nie abreißt – verzehrende Orchesterklänge. Was für eine Interpretation! Vergessen Sie, was Sie an Bergschen Silberlingen zu Hause haben, diese Interpretation ist ein Meilenstein. Man muß es fühlen, man muß es durchleben. Bitte unbedingt live anhören! Für den Alban-Berg-Fan sollte daher keine Anreise zu weit sein. Julia Bauer und Thomas Piffka genial in halsbrecherischen Partien
Beim Sängerpotential sehe ich das allerdings etwas zwiespältig; sie ist ja auch gemein zu singen, diese Musik. Also lobe ich pars pro toto zwei fulminante Darbietungen. Da ist erstens die als Gast eingeflogene Julia Bauer in der Hauptrolle, sowie ein über sich hinausgewachsener Ensemblesänger Thomas Piffka (Alwa). In geradezu halsbrecherischer Kehlkopfartistik loten sie alle Freiräume und Möglichkeiten der Partitur genial aus. Beide bringen sich in das Stück ein, als ginge es tatsächlich um ihr Leben. Da stehen halsbrecherisch gnadenlose Töne, manchmal schon fast sirenenhafter
Das fachkundige Publikum hingegen feierte alle euphorisch, als wären wir in Salzburg oder München, wobei man dem Orchester und seinem Chef geradezu frenetisch (zu recht!) zujubelte. Meiner Meinung nach wäre es Zeit gewesen, bei solch fabelhafter Interpretation die Musiker auch endlich einmal auf die Bühne zu bitten, wie an anderen großen Häusern mittlerweile üblich. Verdient hätten sie es allemal.
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