Der Sommer unseres Mißvergnügens

„Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold in Wuppertal

von Peter Bilsing

Foto © Wil van Irsel

Der Sommer unseres Mißvergnügens
oder
Pathologie-Alltag statt morbid historischem Grusel
 
Die tote Stadt
von Erich Wolfgang Korngold
 
Premiere Oper Wuppertal 15.6.2019
 
Regie: Immo Karamann - Musikalische Leitung: Johannes Pell – Chorleitung: Markus BaischDramaturgie: David Greiner – Kostüme und Choreographie: Fabian Posca - Bilder © Wil van Irsel
Besetzung: Jason Wickson: Paul - Anne Martha Schuitemaker: Juliette - Susanne Serfling: Marietta - Iris Marie Sojer: Lucienne - Simon Stricker: Frank / Fritz - Sangmin Jeon: Victorin / Gaston (Sänger) - Ariana Lucas: Brigitta - Mark Bowman-Hester: Graf Albert
 
Die Original-Geschichte sei kurz vorweg erzählt: Paul lebt in einem Panoptikum der Reliquien seiner verstorbenen Frau Marie, fast in einem Geisterhaus. Er hat sich in die Tänzerin Marietta verliebt, die seiner Gattin sehr ähnlich sieht. Für ihn wird sie kurzzeitig zur Reinkarnation dieser Toten. Er versucht ein Verhältnis mit ihr zu beginnen. Die Künstlerin Marie läßt sich oberflächlich auf die Beziehung ein, ist aber nicht bereit, in die Rolle der Verstorbenen zu schlüpfen. Als Paul ihr einen Zopf der Toten, den er in einem Schrein aufbewahrt, um den Hals legt, verliert er plötzlich die Beherrschung und erdrosselt Marietta.
Im Roman ist das ein reales Handlungselement - in der Opernversion nur eine Vision. Die Ermordung findet nicht wirklich statt, sondern löst - ein Traum der Fantasie - nur eine seelische Wandlung aus. Paul erkennt am Ende der Oper, daß er in dem alten morbiden Brügge, das sinnbildlich als Stadt genauso tot ist wie seine Frau, nicht länger leben kann, und verläßt mit seinem Freund Frank eben diese tote Stadt.


Foto © Wil van Irsel

Regisseur Immo Karamann mißtraut natürlich als moderner Musiktheater-Regisseur der Vorlage des Originals und verschenkt mit seiner Inszenierung sowohl Stimmung als auch jegliche Spannung und Atmosphäre dieser wunderbaren Oper. Wenn man sich vom Roman Georges Rodenbachs bzw. der Korngoldschen Libretto-Adaption löst, geht eigentlich alles Wichtige verloren; vor allem auch die fast Hitchcock-artige Spannung und das Gänsehautgefühl, welches die skurrile Handlung dieser Oper - zumindest in den meisten bisherigen Produktionen - ausmachte. Das heutige Brügge ist eben nicht jenes Bruge-la-Morte, sondern diese Karaman-Geschichte könnte zeitlos auch in Wuppertal, Delmenhost oder Düsseldorf spielen.
 
Das meist sterile, langweilige und leere Einheitsbühnenbild spielt überwiegend in der Leichenhalle eines Krankenhauses. Und auch wenn sich die Wände später öffnen - wir sehen einen spektakulär arrangierten Autounfall, und zu dem Glück, das mir verblieb, mimt da auch noch überflüssigerweise eine zeitgenössische Popband mit Disko-Beleuchtung. So ist die Geschichte wenig ergreifend. Am Ende erklärt Paul noch mal eben zwischen Tür und Angel der Krankenhausempfangshalle, daß er es doch noch einmal versuchen werde. Vermutlich geht er danach ins Büro - nicht in den Freitod. Das Rätsel für den Zuschauer, ob er vielleicht dem Schicksal seiner Ehefrau folgen wird, stellt sich nicht einmal ansatzweise. Figuren, die in das Konzept nicht reinpassen, singen aus dem Off. Schlechter, frustrierter und uninspirierter wurde man selten aus einer Tote-Stadt-Inszenierung entlassen. Eine eigentlich tolle Geschichte wurde mal wieder auf dem Altar modernen Regietheaters im Einerlei zeitgenössischer Requisiten geopfert. Nach dem 25. Mal nerven besonders die Brechtschen Gardinen, mit denen anfänglich selbst kleinste Raumveränderungen auf der Guckkastenbühne kaschiert werden.
 

Foto © Wil van Irsel

Ärgerlich für die hervorragend singende Susanne Serfling sind die unvorteilhaften Kostüme von Fabian Posca, der auch für die Choreografie verantwortlich zeichnet. Überhaupt ist das Frauenbild - heilige Ehefrau oder laszive Hure - recht simpel gestrickt. Zuviel der vermeintlichen Plattitüden eines Ehedramas heutiger Tage oder jammervoller Soap-Operas. Warum eigentlich dieses Umbiegen der Handlung und diese Gegenwarts-Simplifizierung, wo doch das Original so facettenreich ist und gruselig unter die Haut geht.
Jason Wickson ist ein famoser Sänger für die geradezu teuflisch schwere Partie des Paul - darstellerisch wirkt er trotz seiner schon ans Akrobatische grenzenden Fall-Artistik regiegezwungen und auf mich eher eindimensional. Da ist nichts Mitreißendes oder Ergreifendes, wie z.B. bei James King in der legendären Berliner Korngold-Revival-Inszenierung vom 1983 (Götz Friedrich), welche nach vielen Jahrzehnten der Ignoranz gegenüber diesem Meisterwerk und dem schon vergessenen Komponisten uns Korngolds tolle Werke verdientermaßen überhaupt erst wieder nahegebracht hat. So gehört „Das Wunder der Heliane“ zum Beispiel schon fast wieder zum Repertoire-Alltag an guten Bühnen. Gottseidank gibt es die alte Fernseh-Aufzeichnung endlich als DVD. Allen Premieren-Jublern sei dieser Meilenstein ans Herz gelegt.
 

Foto © Wil van Irsel

So endet die Geschichte, die anfängt wie Bernsteins „A Quiet Place“, genauso wie sie angefangen hat, man kennt das altbekannte Schema. Es schließt einen Bilderbogen, der zwar handwerklich solide gemacht ist - immerhin ist Karamann ja ein ausgebildeter Opernregisseur - aber zumindest beim Rezensenten keinen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Überzeugende Werktreue und psychologische Durchleuchtung der Charaktere fanden nicht statt. Wer die Oper zum ersten Mal sieht, wird begeistert sein, aber der Korngold-Kenner und -Freund wird enttäuscht, denn das musiktheatralische Gruselgefühl, welches auch ein wesentlicher Teil dieser Oper ist, kam leider nicht auf.
Die spätromantische Musik Korngolds hatte Dirigent Johannes Pell mit dem sicher aufspielenden Sinfonieorchester Wuppertal passabel und hochengagiert im Griff. Pell, ein Ausnahmetalent, bringt sich vorbildlich ein, atmet stets mit den Sängern und führt auch durch gelegentliche Höchstschwierigkeiten der Korngoldschen Musik seine Musiker sicher und souverän; berechtigte Bravi für ihn und die Solisten. Wie gesagt leider regiemäßig kein großer Wurf, auch wenn das jubilierende Hauspersonal und das Premierenpublikum anderer Meinung waren.
Fazit: für Korngold-Fans verzichtbar. Für Erstseher sicherlich ausreichend empfehlenswert. Fürs Repertoire immer eine Bereicherung.
 
Peter Bilsing, 18.6.2019
 
Redaktion: Frank Becker