45 Minuten im schwarzen Loch

„The Blind“ – a cappella opera von Lera Auerbach in Wien

von Renate Wagner

Bühnenbild aus der Sicht" der Zuschauer - Foto: Mr. Black

45 Minuten im
schwarzen Loch
 
„The Blind“ – a cappella opera von Lera Auerbach

Premiere in der Kammeroper Wien: 17. Jänner 2015
 
Das wird ausnahmsweise ein ganz persönlicher Bericht, anders geht es nicht. Dergleichen gehörte eher in einen Blog als in die „Kritiken“, aber mit den sozialen Medien hab’ ich es nicht. Ich verbringe mehr als genug Zeit am Computer mit Zeitungen lesen, recherchieren und Mails schreiben. Das reicht. Meine Generation tauscht die Zeit zum Bücherlesen nicht dagegen, Facebook zu durchforschen, wer was liked…
Ein persönlicher „Ich“-Bericht also über die Aufführung – nein, vor allem über die Umstände der Aufführung von „The Blind“ von Lera Auerbach in der Kammeroper, weil da doch so viel Ärger hochschwappt, daß jede Objektivität, um die man sich bemüht, weggeschwemmt wird.
 
Also, ich fahre in die Kammeroper, das dauert von mir draußen ungefähr eine Stunde (das gilt für die meisten Theater Wiens, plus minus ein paar Minuten, nachts mehr, weil die Wartezeiten länger sind). Ich komme an und kann mir glücklicherweise von den Pressedamen meine Pressekarte holen – sonst müsste ich zwischen 19 und 51 Euro dafür zahlen. Ehrlich, ich kann mir mein von nie endender Neugier getriebenes Musik-, Theater-, Kino- und Ausstellungsleben nur leisten, weil ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht habe. Gott sei Dank. (Mein Mann sagt: „Kritiker gilt so lange als Traumberuf, bis man ihn aus der Nähe kennen lernt.“)
Die Pressedamen verkünden mir, ich bekäme unten auch eine „Augenbinde“. Da stutze ich schon. Als ich mich über „The Blind“ schlau gemacht habe, stieß ich auch auf einen Artikel über eine Aufführung in den USA, wo den Zuschauern verpflichtend die Augen verbunden wurden, man sie „blind“ an ihre Plätze führte und man sich an seinen Nächsten herantasten mußte. Das gab ziemlichen Ärger und großes Geschnattere im Netz. Als ich etwas knurrig  „So ein Mist“ murmle, versichert man mir, ich könnte auch „nur“ die Augen zumachen. Na, schauen wir einmal…
Der Zustrom zum Theater ist so gering, der ohnedies nicht große Zuschauerraum der Kammeroper so leer, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Na, nicht gescheit, das typische Wiener Premierenpublikum mit Auerbach zu locken, wenn am Gürtel, in der Volksoper, Rolando Villazón als Regisseur mit einer Premiere wartet. Wenn die erste Frage der Promis, wie ich in einem Buch (!) nachlesen konnte, wirklich lautet: „Sind die ‚Seitenblicke’ da?“, dann konnte es an diesem Samstagabend nur heißen: Ja, aber in der Volksoper…
 
Oder hat sich das Publikum a priori nichts von Lera Auerbach, der an sich international so erfolgreichen Russin, erwartet? Oder hat man – auch wenn’s politisch noch so unkorrekt ist, denn zu Behinderten muß man sich natürlich bekennen –  keine Lust auf Blinde, die in eine „a capella opera“ umgesetzt werden?
Beim Eingang gibt man mir jedenfalls eine schwarze Augenbinde, schön in Zellophan verpackt. Dann tritt ein Herr vor das Publikum, ich kenne ihn nicht, er stellt sich nicht vor, ich nehme an, er ist der Leiter der Kammeroper, egal, er hat eine Botschaft. Man solle nämlich diese Augenbinden aufsetzen und die kommende Aufführung „blind“ genießen. Wie bitte? (Ich rede jetzt gar nicht davon, daß er die Lufthansa lobt, die diese „Schlafbrillen“, die angeblich 3 Euro pro Stück kosten, gespendet hat, denn das ist ja verbotenes „Product Placement“, oder?)
Man redet uns tatsächlich ein, daß wir hier ins Theater gekommen sind, um – nichts zu sehen. Freiwillig nichts zu sehen. Wir sollen die „Ohren schärfen“ für die Musik. Dazu fahre ich eine Stunde her und eine Stunde wieder heim, um nichts zu sehen? Nur, weil die Oper, die keine ist, sondern ein sehr dürftiger Einakter (warum man sich entschlossen hat, nichts dazu zu spielen, wird angesprochen, aber dann irgendwie großartig nicht begründet), „Die Blinden“ heißt. Nach „Les Aveugles“ von Maurice Maeterlinck, den man nicht „Mäterlinck“ ausspricht, sondern „Maaterlinck“, wie wir in der Theaterwissenschaft gelernt haben, aber es ist schon wichtigeres Wissen verloren gegangen.
Nun, die meisten der nicht so zahlreichen Besucher setzen brav die Augenbinde auf und sind bereit, „ihre übrigen Sinne zu schärfen“. Ich lasse die Augenbinde weg, erstens, weil ich überhaupt nicht zu blindem Gehorsam neige und nicht unbedingt tue, was man mir sagt (darum bin ich auch nicht „Charlie“, aber das steht auf einem anderen Blatt), und zweitens weil ich überhaupt kein Bedürfnis habe, „zu erleben, wie man sich als Blinder fühlt“. Schlimm genug, daß die Blinden es müssen, ich muß nicht alles haben.
 
Aber daß wirklich Menschen sich einreden lassen, sie sind ins Theater gekommen, um bei geschlossenen Augen ein bißchen Musik zu hören (und es ist ein bißchen, am Ende waren es 45 Minuten…), das erstaunt mich schon. Andererseits – die zwölf Choristen, als sie denn drankommen (davor gibt es ein ganz nettes, vom Band kommendes Gemisch aus Geräuschen und Tönen mit teils fernöstlichen Anklängen), tun natürlich nichts. Das heißt, eigentlich schon etwas, denn um die Groteske ins Perverse zu treiben, singen sie, die „die Blinden“ vorstellen, aus den Noten… Auswendig lernen zu viel verlangt? Egal.
Man kann nun – außer hören – ohnedies nichts tun, als ihnen dabei zuzusehen, wie sie entweder stehen oder gemessen schreiten. Da macht man freiwillig die Augen zu – nur ich sehe, wenn einer der Herrschaften dann entsetzt in den Zuschauerraum stürzt, weil er, der arme Blinde, einen Toten berührt hat… Die anderen hatten wohl das tolle Erlebnis, mit ihren geschärften Ohren zu hören, daß einer nicht mehr auf der Bühne steht, sondern seine Stimme von woanders her kommt. Na klar. Toll.
 
„Die Blinden“ sind ein Stück aus jener Welt des Symbolismus, die es uns schon schwer macht, wenn wir jedes Wort verstehen (und dann wird man den Verdacht nicht los, daß die Blindheit, die Maeterlinck gemeint hat, nicht eine der Augen, sondern eine des Erkennens war…). Aber die Chance des Begreifens ist bei dem englischen Text, wie er hier gesungen wird, null. Hie und da ein halber Satz, nicht mehr. Einmal „De Profundis Clamavi“, na das kennt jeder. Kein Zusammenhang. Wieder ein im Grunde sinnfreies Event. (Daß es keine Übertitel gibt – na, vielleicht kann die nächste Generation so was schon direkt in den Kopf projizieren!)
Musik also, zwölf Herrschaften des immer und auch hier so vorzüglichen Arnold Schoenberg Chors, vor denen Erwin Ortner dirigierend steht, singen, prachtvoll als Kollektiv, mit Solistenqualitäten, wenn einzelne von ihnen heraustreten. Dafür, daß es zeitgenössische Musik ist, tut es nicht im geringsten „weh“. Es bleibt immer tonal genug, um das Atonale verträglich hineinzuweben.
Man weiß – ich bin immer wieder erstaunt, wie leicht das Recherchieren geworden ist im Gegensatz zu meinen mühseligen Anfangsjahren im Journalismus – aus dem Internet, daß es Aufführungen gab, die versucht haben, dieses Werk doch auch zu gestalten, mit Projektionen zu kommentieren, kurz, etwas Greifbares daraus zu machen. Nicht so hier. Ein kostenfreies und ideenfreies Unternehmen, kein Regisseur, kein Ausstatter. Ein Chor singt. Ein Chor geht und steht auf der Bühne. Danken wir Gott, daß dieser Chor so vorzüglich ist.
 
Nach 45 Minuten – das war’s. Eine Stunde Heimfahrt. Folgender Vorschlag: Wenn mich nächstens wieder jemand in die Oper einlädt, wo es programmatisch nichts zu sehen gibt, soll er mir doch bitte eine CD schicken. Ich lege mich dann aufs Sofa, das ist jedenfalls bequemer als ein Theatersessel, und ich verspreche auch hoch und heilig, mir die Musik mit geschlossenen Augen anzuhören…
 
Renate Wagner 18.1.15