Wohin bist du, du goldene Zeit?

Eugen Onegin in Coburg

von Alexander Hauer

Eugen Onegin

Wohin bist du, du goldene Zeit?
 
Besuchte Vorstellung 29. Juni 2013
Premiere
 
Nach gefühlten fünf Stunden optischer Beleidigung war es endlich vorbei. Als das Regieteam zum Verbeugen kam, brüllte mir der Herr in der Reihe hinter mir seine Bravos so laut ins Ohr, daß ich dachte, was bekommt man heute denn so als Claqueur?, und dann verkrampften sich meine Mittelfinger. Für diese unwürdige Geste entschuldige ich mich wie Bushido, aber es war eine Übersprunghandlung, genau wie das andauernde an-den-Haaren-ziehen der weiblichen Protagonisten.

Ein russisches Landhaus, nicht in Coburg

Der Vorhang des Coburger Theaters ist anscheinend in Urlaub, so hat man Gelegenheit, das Bühnenbild (erstes Bild, Garten beim Landhaus der Witwe Larina) zu bewundern. Dummerweise wurde die Gartenpracht durch einen Fluß türkisfarbenen Konfettis hinweggespült und durch ein paar Baumstämme, natürlich Birken, wir sind ja in Russland, ersetzt. In dieser Idylle singen zwei verhaltensgestörte pubertierende Mädels das Lied von dem Sänger im nächtlichen Hain, während ihre alkoholkranke(?) Mutter relativ unwirsch mit einer alten Bediensteten umgeht, entgegen der Harmonie dieses Quartetts. Die Alte hebt eine Menge vertrockneter Biedermeiersträuße auf, die ihr von Olga, der jüngeren der beiden Plagen, entrissen und zerpflückt werden.
Zur Krönung trampelt sie auf den Blumenleichen herum. Eigentlich sollte nun die Supernanny kommen und das Kind auf die stille Treppe schicken, tut sie aber nicht. Es erscheint der Chor, und Frau Larina teilt eine imaginäre Suppe aus einer amerikanischen Mülltonne in die mitgebrachten Plasteschüsseln aus. Auch überreichen die Geknechteten keine Erntegarben sondern ein erbärmlich kleines (schon wieder) Biedermeiersträußchen, bevor sie sich an die Wand stellen und rhythmisch ihre unsichtbare Suppe löffeln, um dann auf Kommando ein lustiges Liedlein anzustimmen, dann nach und nach von der Bühne verschwinden. Als sie betrunken wiederkommen haben sie alle Kreisel dabei, die von den Töchtern gerne und oft mit lautem Ratschen in Bewegung gesetzt werden, und die strenge Frau Larina schenkt ihnen noch mehr Wein.

Traumfrau gesucht

Die ältere Tochter Tatjana hat es in diesem Umfeld sogar geschafft, das Lesen zu erlernen, was sie auch gerne tut. Ihre Mutter, entgegen der Originalphrasierung, verspottet sie dafür. Ihr „Trost“ ist eine blanke Bloßstellung der verkümmerten Gefühle ihrer Tochter. Zum Ausgleich ziehen sich alle mal wieder an den Haaren. 
Als dann der Nachbar Lensky mit seinem Bro Onegin auftaucht, gerät der Frauenhaushalt komplett durcheinander.
Das Zuviel an Testosteron führt zu hemmungslosen Rumgerenne und natürlich auch wieder zum Haare ziehen. Die beiden Jungs könnten auch Stelzböcke aus Kuppelshows wie „Traumfrau gesucht“ sein - daß Onegin zu seinem kleinen roten Hut aus der H&M Kollektion ausnahmsweise die farblich passenden Klamotten trägt, war bestimmt keine Absicht. Lensky aber ist von dem Spaziergang so erhitzt, daß er sein Hemd aufreißen muß und stolz im Trägerleibchen herumläuft, geballte Männlichkeit.

Kein Bett, kein Tisch, dafür naturbelassene Birkenstämme

Im zweiten Bild wird die wahre Tragik dieser Familie ganz deutlich, Tatjana hat keinen Laptop, kein I-Phone um ihren Brief zu schreiben. Noch nicht einmal ein Bett und ein Schreibtisch stehen dem Mädchen zur Verfügung. Nachdem ihre Nanja, schätzungsweise 70 Jahre alt, ergo Jahrgang 1943, plus minus, ihr von der schlimmen Jugend, Zwangsheirat mit knapp 18 oder jünger, also plus minus 1961, bösen Schwiegereltern, ok ,die gab‘s noch in den 60ern, erzählt und nicht richtig weiterhelfen kann, wird die Alte bockig und fragt das Mädchen, ob sie sie mit Weihwasser besprengen soll, besprengen ist aber nicht, das Mütterchen nimmt also ein Plasteschüssel und kippt Tanjuscha einfach den Inhalt über.
 
Also schreibt Tatjana ihren Brief auf rotem Briefpapier auf dem Boden liegend, auf einem Köfferchen, auf einem Baumstamm immer und immer wieder. Dann wickelt sie sich mumiengleich in die Gardine und wieder aus, und, man ahnt es kaum, zieht sie sich wieder an den Haaren. Ok, werter Leser, ich erwähne es jetzt nicht mehr, denken Sie es sich bitte immer dazu. Nachdem das verhaltensgestörte Gör die Gardine mutwillig abgerissen hat, dämmert der Morgen, der Hirte durchdringt mit seiner Schalmei den jungen Tag, und Mütterchen will Tanja zur Kirche abholen. Stattdessen soll die Alte aber jenen besagten Brief zustellen, aber Nanja stellt sich dumm, ein kleines Aufmucken der Arbeiterklasse?, und so wird einfach einer der Nachkommen von der guten Nanja damit beauftragt.
 
Die Baumstämme, die zu Beginn des zweiten Bildes in einen transzendenten Schwebezustand gerieten, sinken wieder zu Boden, um das dritte Bild darzustellen. Mädchen pflücken im Hintergrund Holunderbeeren und singen dazu. Ätschbätsch – reingefallen. In selten häßlichen Jerseykleidern knien die Damen des Chors vorm Orchestergraben und verschieben Amazonpakete von links nach rechts und von rechts nach links und schlagen schön geräuschvoll drauf, könnten Poststempel sein, könnte aber auch eine inszenatorische Kritik an der „Ausbeuterfirma“ Amazon sein, die ja durch eine HR-Reportage kurz vor dem Weihnachtsgeschäft übelst ins Gerede kam. Nur so nebenbei erwähnt, Normalvertrag Solo reicht auch nicht für spätrömische Dekadenz. Dann gehen sie wieder ab und Bühne frei für das personifizierte Böse, Herrn Onegin. Tanjas Befürchtungen Herr Onegin könnte sich lustig über sie machen, treffen nicht ein, aber Herr Onegin gibt dem heranwachsenden Mädchen klipp und klar zu verstehen, daß er sie nicht will, weil sie zu jung ist und er sich nicht binden möchte. Natürlich versteht Tatjana das alles falsch und zieht…, ach, lassen wir das.
 
Proletenparty bei Larina

Mit Riesenschritten nähern wir uns dem Zweiten Aufzug, das Namenstagfest Tatjanas, nach unserem Kalender am 15. Januar. Die Bühne dreht sich ein bißchen, der Konfettifluß ist inzwischen schön durchwirbelt und auf den Birkenstämmen liegen Tücher mit Hirschaufdruck. Frau Larina hat ganz in alter kapitalistischer Tradition ihre Belegschaft zum Feiern eingeladen, alle sind guter Dinge und trinken was das Zeug hält, und was reingeht will auch wieder raus. Wie schön, daß es da eine hintere Dekorationswand gibt, an die sich alle Chorherren mit dem Rücken zum Publikum stellen und, naja, was wohl? Zwischendurch werden Luftballons aufgeblasen und unter, zur Heiterkeit im Publikum führenden, Flatulenzgeräuschen fliegen gelassen.
 
Trifon versucht im Laufe des Aktes Frau Larina zu poppen, aber - kleiner Tipp am Rande - es geht einfacher, wenn die Hosen dabei nicht im Wege sind, also vergebliche Liebesmüh. Nachdem die weibliche Belegschaft über Onegin hergezogen ist, erzählt dieser dem Publikum wie Scheiße der Ball ist und das er deshalb jetzt Lensky nerven wird. Das Verhältnis Lensky-Olga ist gerade nicht mehr das Beste, und so tanzt Olga gerne mit dem Bariton den Kotillon, in Coburg eine heillose Polonäse Blankenese zur vorgerückten Stunde, während der Tenor langsam aber sicher die Contenance verliert, seine Freundschaft zu Eugen aufkündigt und diesen dann zu Duell herausfordert.

Und dann sind wir im fünften Bild, ein verschneiter Wiesengrund in der Nähe einer Wassermühle. Dieser wird durch sechs Statisten, die ein schwarz-weißes Absperrband über die Bühne spannen, dargestellt. Warum Olga und Tatjana beim Duell anwesend ein müssen, kann Frau Lauterbach nicht wirklich erklären, reine Sensationslust der beiden wird es wohl nicht sein, ist sicherlich was Psychologisches. Onegin kommt mit einem nicht adäquaten Sekundanten zu Walstatt ( kleine Referenz ans Wagnerjahr), aber jeder hat seine eigene Waffe dabei, hmm, schon ein bißchen seltsam, aber gut, nachdem keiner von seiner Position abrücken will, stellt man sich wider besseres Wissen in die Selbige, zielt, feuert und der Tenor ist nicht mehr.

Spätestens an dieser Stelle wäre ich als Privatmann Essen gegangen…

Pause, Umbau auf Palais Gremin, natürlich bei offener Bühne. Von der Bühne hängen zwei Luftballongebilde runter, schwarz, grau und beige, ein bißchen wie die Weihnachtsfeier im Emo-Club, um die Bühne ebenfalls Ballons in der gleichen Farbgebung.
 
Der Ball im Hause Gremin ist ein öffentliches Ereignis, zu dem die Hautevolee in ihrer schillerndsten Form angetreten ist, vor Spiegelwänden, schön nach Geschlechtern getrennt, kontrolliert man das Aussehen. Und alle sind sie da, die geächtete Dame der Gesellschaft, die verzweifelt Anschluß sucht, das schicke schwule Paar im Partnerlook, der Kulturstricher mit dezent goldenen Sneakers, die Szenegrünen, die Erzkonservativen, und alle fuchteln mit dem Handy rum. Onegin erscheint und ist gleich wieder im Mittelpunkt der üblen Nachrede. 16 Jahre sind vergangen, 16 Jahre voller Leid und Selbstqual aufgrund jenes verhängnisvollen Namenstages. Aber die Zeit hinterließ bei Onegin keine Spuren, genauso wenig wie bei Tatjana, der Gattin des Generals Gremin, einem altem Militärkumpel von Onegin. Einzig Onegins Seele scheint geläutert, naja, das Alter fordert seinen Tribut. Gremin hatte anscheinend abgemustert, zumindest trug er keine militärischen Dekorationen an seinem schlechtsitzenden Anzug, oder wurde er zum Pazifisten, als er seinen Arm einbüßte?
Wie dem auch sei, er liebt seine Tatjana, die er beherrschen und durch kleine Gesten kujonieren kann und es auch tut. Das Wiedersehen der beiden Hauptprotagonisten verläuft erwartungsgemäß kühl, während der Chor wild koksend über den hinteren Teil der Bühne rennt. Auch hier möchte ich aus dem Nähkästchen plaudern, niemals beim Koksen rumlaufen, das kolumbianische Zauberpulver fliegt dann weg, und dafür ist es einfach zu teuer, wenigstens für uns Normalbürger. Tatjana verläßt zusammen mit ihrem Gatten den Ball. Während der Ekossaise reißt sich Onegin Sakko und Hemd vom Leib und kühlt sich im Trägerleibchen den erhitzten Körper mit Eiswürfeln, die der Caterer in einer amerikanischen Mülltonne, ah, der Kreis schließt sich, wohl für die Cocktails gebunkert hatte.
Im finalen, siebten Bild haben Reinigungskräfte schon mal ein wenig aufgeräumt, es hängt nur noch ein Emochristbaum rum. Briefe fallen vom Bühnenhimmel herab, als hätte Harry Potters Eule keine Lust mehr zum Zustellen, dabei hat Onegin doch nur einen geschrieben. Nun denn, er gesteht ihr seine Liebe, sie ist sichtlich berührt und verfällt wieder in alte Gewohnheiten, sie wissen, die Haare, bleibt aber dann doch lieber bei ihrem Gremin, eine antrainierte Opferrolle wird man nicht so leicht los. Am Ende steht er ganz alleine an der Rampe und beklagt sein Schicksal. Naja, da kann beiden keiner mehr helfen.

Tja, ein langer Abend mit vielen Eindrücken… (und ein Lob den Stimmen)
 
Aber jetzt mal was positives, musikalisch war es, wie so oft in Coburg in weiten Teilen ein Hochgenuß. Lorenzo Da Rios Chor, Chapeau! Wunderbar einstudiert, wunderbar gesungen, auch den vielen Chorsolisten, allen voran Sascha Mai als Triquet, grandiose Charakterstudie eines alternden Provinzschöngeistes, gilt hier meine Anerkennung, Mojca Vedernjaks Filipjewna sanft tembriert, ruhig geführt, voller Konzentration in der Darstellung des alten Weibes. Gabriela Künzler, die in Coburg einen fulminanten Einstand als Kabanicha gab, erfüllte diesmal meine in sie gesetzten Erwartungen nicht ganz. Mag es daran liegen, daß sie eine anstrengende Saison hinter sich hatte oder lag es daran, daß sie die Larina in ungewohnter Diktion gesungen hat, sei dahin gestellt. Ihre Rolle, die die Regie ihr aufgebürdet hatte, spielte sie perfekt. Verena Usemann, wo nimmt dieses zarte Persönchen diese Stimme her, als lebenslustige, dennoch psychisch gestörte Olga, als ob die Partie für sie geschrieben wäre. Das gleiche gilt für ihren Verlobten Lensky. Milen Bozkhov singt diesen Schöngeist mit einer wunderbaren Klarheit und verführerischem Glanz.
 
Der Gremin Michael Lions zeugt von einer guten Schule, einer sehr gepflegten Stimme, die auch die Tiefen dieser Partie mühelos meistert, die Phrasierungen blitzschnell ändern kann und sich jeder dynamischen Herausforderung stellen kann.
Benjamin Werth, ein Onegin ohne Fehl und Tadel, ich wage mal eine Prognose, da wächst in Coburg etwas ganz großes heran. Mehr braucht man nicht zu sagen, ein Sänger, der sich auch in den abwegigsten Regiesituationen nicht aus dem Konzept bringen läßt, ein baritonaler Edelstein. Das gleiche gilt auch für Betsy Horne, die auf der Schwelle zu einer internationalen Karriere steht. Brava Betsy, noch mal an dieser Stelle, wunderbar, einzig, Danke für diese Stimme.
Hier könnte man jetzt in den gleichen schwelgerischen Tönen für das Orchester des Landestheaters weitermachen, selten eine so perfekt gespielte Polonaise gehört, aber Maestro Kluttig, sollte auch nicht in Coburg „prima la musica“ gelten? Tut es not, daß in die ausklingenden Pianostellen der Nr. 16 von Olga hemmungslos laut geweint wird? Muß es sein, daß eine selbstherrliche Regisseurin die Polonaise durch jenen überkommenden Gag, das peinlich klingende Handy, zerstört und diese wunderbare Musik zur Lachnummer verkommen läßt? Eigentlich schade, daß der sonst so positive musikalische Gesamteindruck, durch störende und absolut unnötige Geräusche stark gemindert wird. Vielleicht sehen Sie es anders, wenn nicht, ändern Sie es!

PS: Ich erinnere einen „Fliegenden Holländer“ von Frau Lauterbach im Staatstheater Karlsruhe, der nach der Premiere des damaligen „Regiewunderkindes“ vom Intendanten korrigiert wurde, um Schaden vom Haus zu wenden.