Haste ma `ne Mark?

Die legendäre Berliner "Linie 1" rollt durchs Wuppertaler Schauspielhaus

von Frank Becker

Berlin-Nostalgie


Olaf Strieb inszeniert in Wuppertal das U-Bahn-Musical
"Linie 1"
von Volker Ludwig und Birger Heymann





Inszenierung:
Olaf Strieb  -  Musikalische Leitung und Einstudierung: Matthias Flake  -  Bühnenbild: Diana Pähler  -  Kostüme:  -  Miriam Dadel  -  Choreographie: Ensemble  -  Dramaturgie: Wilfried Harlandt  -  Fotos: Michael Hörnschemeyer


Das Mädchen: Jennifer Breitrück  -  sowie in multiplen Rollen: Ingeborg Wolff, Julia Wolff, Hans Richter, Andreas Ramstein, Bernhard Glose, Alexander Scala, Henning Strübbe, Felix Lohrengel, Christina Schmitz, Magdalena Helmig und Thomas Braus als Ansagerstimme aus dem Off
Die Band: Matthias Flake, Daniel Sanleandro Fernández, Christoph Terbuyken, Mirko van Stiphaut/Thorsten Praest

Nach Berlin!

Als 1986 Deutschland (West) noch von der verschnarchten Provinz aus dem Provisorium Bonn regiert wurde, die ummauerte "Insel" Berlin einen Sonderstatus hatte und sich viele junge "Wessies" die Hauptstadt als das Paradies ohne Regeln vorstellten, wurde im "Grips"-Theater die musikalische
 
06.15 h - Bahnhof Zoo
Revue "Linie 1" uraufgeführt, die eine Facette des damaligen Zeitgeistes in der geteilten Stadt trotz einer Menge Klischees recht gut  wiedergab. Das Stück von Volker Ludwig und Birger Heymann, das von geplatzten Träumen, gescheiterten Hoffnungen, verkorksten Lebensläufen und kaputten Typen erzählt, wurde im Mikrokosmos der im Westen Berlins - der Osten war ja mit Beton verbarrikadiert, eine irreale Realität, die in dem Stück ausgeklammert bleibt - verlaufenden U-Bahn-Linie 1, die von Ruhleben bis Schlesisches Tor verlief, angesiedelt. Genauer: in dem Teilstück zwischen dem Bahnhof Zoologischer Garten und der damaligen östlichen Endstation Schlesisches Tor. Dort war Kreuzberg (SO 36), das Berliner Stadtviertel, das schon damals die höchste Dichte an türkischen Einwanderern hatte und in das Hausbesetzer und Wehrdienstflüchtlinge als "Kiez" drängten.
Auch die Kriminalitätsrate war dort höher als anderswo in Berlin. Ein bißchen wilder Westen. Die "Urberliner" Bevölkerung wurde ein wenig an den Rand gedrückt.

Schnorrer, Penner, Freaks

Am Bahnhof Zoo kam man seinerzeit an, wenn man mit dem Zug in Berlin eintraf. Hier war der Umschlagplatz für Reisende, die in alle Richtungen mit der S-Bahn, dem Bus oder der U-Bahn an ihre eigentlichen Berliner Ziele weiterfuhren, aber auch Umschlagplatz für Drogen, Kinderprostitution und  Taschendiebstahl. Ein schmutziger Ort, kein
schöner Bahnhof, an dem man sich gerne aufhielt. Penner, Krakeeler, Süchtige, Dealer und eine Menge Gesindel hatten den Bahnhof Zoo zu ihrem
 

Fremde Stadt...  -  Jennifer Breitrück (links)
Revier gemacht. Ludwig/Heymann lassen das durchaus erkennen, wenn sie es auch mit einem Hauch von Romantik überzuckern. Hier nun also kommt "das Mädchen" (Jennifer Breitrück) an, das aus der vermeintlichen Enge des spießigen Westens abgehauen ist, um in der brodelnden Großstadt Berlin seine Liebe wieder- und sein Glück zu finden. Ein Musiker aus Kreuzberg hat sie beim Gastspiel im Westen geschwängert. Nun sucht sie ihn und trifft auf genau die, die Berlin und seine Weltoffenheit in Wirklichkeit nie ausgemacht haben: Penner, Schnorrer, Alkoholiker, Arbeitsscheue, Dealer, Alt- und Neo-Nazis, Freaks - Randexistenzen eben. Die waren nie Berlin, die Stadt hat sie nie gewollt.  Hier werden sie zum Personal eines anrüchigen Nucleus mundi.

Konzept hervorragend umgesetzt

Olaf Strieb hat das mit einem hoch motivierten und hervorragend besetzten Ensemble aus "alten Hasen" und Schauspielschülern, das außer der Protagonistin in atemberaubendem stetigem Kostüm- und Maskenwechsel jeweils bis zu acht Charaktere verkörpert, griffig und unterhaltsam umgesetzt.

Wilmersdorfer Witwen: Felix Lohrengel, Henning Strübbe,
Hans Richter, Andreas Ramstein (von Links)

Vom topisch gewordenen "Haste ma ne Mark?", das seinerzeit auf den Bahnsteigen und an den Ausgängen der U-Bahn beinahe im Chor hallte, bis zu den wechselnden Stationsschildern der Bahnhöfe wirkt  die Szenerie authentisch. Eins aber habe ich nie von einem Berliner Stations- Ansager gehört: "Bitte..." - da heißt es in Klang und Melodie unvergleichlich lakonisch: "ßuurückbleiben!". Einen ordentlichen Anteil am Erfolg haben das einfache, jedoch raffinierte Bühnenbild von Diana Pähler, die  vorzüglichen Kostüme von Miriam Dadel, die besonders zu lobende Maske von Barbara Junge-Dörr und natürlich: die Band. Die Musik-Einrichtung von
Matthias Flake und die brillante Live-Einspielung sind ein wesentlicher Garant für das Gelingen, dieses von seinen Liedern lebenden Stücks.

Jennifer Breitrück überzeugt

Das Tempo, die auf den Punkt gelungene Choreographie und auch die Gesangsnummern lassen das Vergnügen der Darsteller spüren. Jennifer Breitrück überzeugt  bei diesem Debüt, ihre Kommilitonen
 
Hans Richter, Ingeborg Wolff, Christina Schmitz
der Folkwang- Schule können durchaus gleichziehen und die bewährten Wuppertaler Stamm-Kräfte geben das charaktervolle Gerüst. Da glänzt Ingeborg Wolff als Bouletten- Trude in ihrer Currywurst- Bude am Bhf. Zoo (wußten sie, daß die Currywurst in Berlin erfunden wurde und nur dort wirklich schmeckt?), als aufrechte Nazi-Hasserin und als Pennerin Lola, wird Julia Wolff zur eleganten Türkin, zur Schwangeren und zur fleischgewordenen Ivy von Berthet, und Hans Richter berührt neben vielen anderen kleinen Rollen besonders mit seiner Verkörperung des philanthropischen alten Bonvivants Hermann. Mit viel Sinn für die eigentliche Liebenswürdigkeit Berlins und seines eigenen Humors setzen sie alle das breite Spektrum der Rollen bis hin zum verträglich kitschigen Happy End um.

Berlin bleibt doch Berlin

Elke Heidenreich hat sich ein- für allemal mit den Sätzen: "Ich hasse Berlin, habe es immer gehaßt. Ich mag den Dialekt nicht, den sie dort sprechen, ich mag die grauen Häuser nicht, den Geruch der U-Bahn, das ganze hysterische Deutsche-Reich-Getue. Ich mag ihr Bier nicht und muß kotzen, wenn ich ihre Buletten nur sehe..." ins Aus geschossen.  "Linie 1" ist zwar auch keine direkte
 
Streckenführung U 1 - 1986 - © BVG (Archiv)
Liebeserklärung an die Stadt mit dem großen Herzen, aber eine Ahnung vermittelt die kleine Revue doch. "Fahr mal wieder U-Bahn" ist Hymne und Werbesong zugleich. Die U 1 fährt längst nicht mehr die alte Strecke. Nach dem Dahinscheiden der DDR - keiner bedauert es - und dem Einreißen der Mauer wurden auch die alten Strecken wieder aktiviert. Wenn sie heute die "Line 1" benutzen, werden sie den Bhf. Zoo nicht mehr passieren - sie fährt jetzt von Krumme Lanke über Wittenbergplatz nach Warschauer Straße. Aber die Stationen Nollendorfplatz, Gleisdreieck, Möckernbrücke, Prinzenstraße, Schlesisches Tor und die anderen aus der Revue der 80er Jahre berührt sich noch.
Im Wuppertaler Schauspielhaus präsentiert man beste, leicht nostalgische Unterhaltung.
Und: Nach Berlin fahren und ausprobieren - es lohnt nicht nur das U-Bahn-Fahren, denn Berlin ist immer eine Reise wert!

Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de