Drtikol - Photographs

Tschechische Aktfotografie der 20er Jahre wiederentdeckt

von Frank Becker

© Hatje Cantz / Ruzena Knotková-Boková
Motiv: Erregtes Helldunkel, 1927
Eine aufregende
Wiederentdeckung
 
Die ganze fiebernde Epoche der aufregenden neuen Fotografie der 1920er Jahre im Sog von Expressionismus, Art Deco, Symbolismus und Psychoanalyse, später den Kubismus hat er mit jeder Faser seiner Beobachtung und Kreativität mitgenommen. Das aufkommende Medium Film hat ihn ebenso fasziniert wie die moderne Malerei, die ganz andere Sicht auf die Nacktheit des weiblichen Körpers (Männerakte sind hier rarer) hat er ebenso gewonnen wie er den ästhetischen Blick auf  die natürlichen weiblichen Attribute bewahrt hat.
 
Frantisek Drtikol (* 3. März 1883 in Příbram; † 13. Januar 1961 in Prag) nimmt in der weltweit anerkannten innovativen tschechischen Fotografie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert eine besonders herausragende Stellung ein, weshalb ihm 2012 in Prag und Erfurt zwei große von Rudolf Kicken kuratierte Ausstellungen gewidmet werden. Seit Dezember 2011 ist bereits eine Doppelausstellung „Frantisek Drtikol/Helmut Newton“ in Duderstadt zu sehen. Der als Begleitmaterial zu den Ausstellungen in Erfurt und Prag zusammengestellte Bildband zeigt, wenn auch nicht die ganze Spannbreite seines Schaffens bis 1961, so doch wichtige Bilder aus Drtikols intensivster Zeit von 1913-1935. Nachdem er bereits von 1898 bis 1901 im Atelier Antonin Mattas in seiner Geburtsstadt eine Fotografenlehre absolviert hatte, bekam Drtikol von 1901-1903 an der „Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie“ in München eine akademisch fundierte fotografische Ausbildung, die ihm das Werkzeug zur Entwicklung eines eigenen Stils an die Hand gab.

 
Drtiko, Welle © Ruzena Knotková-Boková

Deutlich zeigen sich in den Reifejahren die Bezüge zur Malerei und in vielen gewählten Perspektiven, schrägen Ebenen und gedehnten Proportionen und Linien die Einflüsse des expressionistischen Films und seiner Kamera-Einstellungen, oft verschwimmend mit dem Bewegungs- und Schönheitsideal der Philosophie Elizabeth Mensendieks. Modelle nehmen Posen des Ausdruckstanzes in der Tradition von Isadora Duncan, Mary Wigman, Martha Graham oder Harald Kreutzberg ein, das Spiel mit Licht und vor allem Schatten, das Mit- und Gegeneinander von

Mutter Erde © Ruzena Knotková-Boková
Körperkonturen und graphischen Linien prägt Drtikols individuellen Stil. Er schafft Akte in Vollendung, nur gelegentlich mit Accessoires wie einem Hut, einem Seil, einer Stoffscheibe ausgestattet, läßt die Körper sprechen. Die Scham wird häufig in hoher Ästhetik betont, wie sie bekommen das Idealbild der Brüste deutlich eine zentrale Bedeutung. 
 

Erstaunlich seine durch viele Aufnahmen dokumentierte Beschäftigung mit der Geschichte Johannes des Täufers und Salome – das Motiv der unbarmherzigen Gier nach Rache des verschmähten Weibes muß ihn verfolg, beinahe gequält haben, in das durch leibliche Schönheit noch grausamer verzerrte Gesicht des Todes, das ungeheure tremendum fascinosum, welches in diesem Motiv steckt, nimmt eine wichtige Stellung seines Schaffens ein. Andere religiöse, biblische Motive finden Eingang – der Akt in der Haltung der büßenden Magdalena oder die lockende Eva mit dem Apfel, sowie ohne Scheu vor dem Blasphemie-Vorwurf der gekreuzigte Frauenakt balancieren auf einem

Dornen © Ruzena Knotková-Boková
schmalen Grat zwischen Lust und Leiden. Bei solchen Kreuzigungen und Bildern wie „Mutter Erde“ (ca. 1930) ist gewiß die Psychoanalyse gefragt. Diese Tiefe soll und kann hier nicht ausgelotet werden.
 
Späte experimentelle, mit langgestreckten Papierschnitten arbeitende Vorläufer der esoterischen Sicht auf den Menschen wirken merkwürdig fremd. Nahezu schwebende, hauchzarte Konturen und Silhouetten sind an die Stelle begehrenswerter Fleischlichkeit getreten. Die Frau als Lust des Auges wandelt sich zum nahezu fliehenden Objekt der Unerreichbarkeit. Nach 1945 wendet sich Drtikol von der Fotografie ab – ein ungewöhnlicher Schritt für einen Mann, der sein ganzes Leben bis dahin diesem Medium gewidmet hat. Mit 77 Jahren stirbt er.
Sein durch die kommunistische Doktrin und Zensur der CSSR verschüttetes, vergessenes Werk wird erst seit wenigen Jahren wiederentdeckt und der Geschichte der Fotografie zurückgegeben. Die aktuellen Ausstellungen und Publikationen wie diese sind dankbar aufzunehmen.


Drtiko, Akt ohne Titel 1925 © Ruzena Knotková-Boková
 
Warum allerdings etliche der Abbildungen im Buch offenbar horizontal und sogar vertikal seitenverkehrt wiedergegeben werden, erschließt sich nicht. Wir halten uns bei der Wiedergabe in dieser Besprechung an die Vorgaben des Buches.


Drtiko, Gekreuzigte 1913 © Ruzena Knotková-Boková
 
Drtikol – „Photographs Photographie“

© 2012 Hatje Cantz Verlag, Kicken Berlin, 103 Seiten, gebunden, 128 Abb., 2 Klapptafeln, 24,70 x 31,70 cm
Hrsg. Annette und Rudolf Kicken, Galerie Stredoceskeho kraje /GASK/, Texte von Vladimír Birgus, Anna Fárová, Matthew S. Witkovsky, Gestaltung von Margarethe HausstätterEnglisch/Deutsch - ISBN 978-3-7757-2600-9
€ 35,00 | CHF 47,90
 
Ausstellung: Galerie Stredoceského kraje /GASK/, Prag, Mai–August 2010 |
Kunsthalle HGN Duderstadt ab Dezember 2011 | Angermuseum Erfurt 2012 
 
Weitere Informationen unter: www.hatjecantz.de/