„Dass ich ohne Sorge bestehen kann in dieser Zeit“

Zwei Neuausgaben von Rilke-Briefen geben Einblick in die Krisenjahre des Dichters

von Daniel Diekhans
„Dass ich ohne Sorge bestehen
kann in dieser Zeit“
 
Zwei Neuausgaben von Rilke-Briefen
geben Einblick in die Krisenjahre des Dichters
 
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist für Rainer Maria Rilke ein schwerer Schlag. In sein geliebtes Paris kann er nicht mehr zurückkehren. Notgedrungen läßt er sich in München nieder. Es ist ein Glück im Unglück. Denn dort begegnet der mittellose Dichter Hertha Koenig. Die junge Schriftstellerin wird nicht nur zu einer guten Freundin, sondern auch zu einer hilfsbereiten Mäzenin. Rilke revanchiert sich, indem er sich bei Lektoren und Verlegern für ihre literarischen Arbeiten einsetzt.
 
Beredte Zeugnisse dieser Freundschaft sind die Briefe, die Rilke zwischen 1914 und 1921 an Hertha Koenig schrieb. Dieses Konvolut hat der Pendragon-Verlag vor zwei Jahren erstmals vollständig herausgegeben. Jetzt sind beim Bielefelder Verlag die „Briefe von Gut Böckel“ erschienen, die während Rilkes Aufenthalt auf Hertha Koenigs ostwestfälischem Landgut im Sommer 1917 entstanden. Bei beiden Veröffentlichungen hat Herausgeber Theo Neteler hervorragende Arbeit geleistet. Jeder Brief wird gründlich kommentiert. Daneben präsentiert Neteler Gedichte und Photos von Rilke und Hertha Koenig – und Bilder des jungen Picasso, von denen beide Brieffreunde literarisch inspiriert wurden. Die Briefe selbst erlauben intime Einblicke in die dunklen Jahre eines Dichterlebens. Getreu seiner Überzeugung, „dass Briefe ja wichtiger sind, je mehr sie von der Verfassung des Schreibers mittheilen“, spricht Rilke seine Lebenskrise offen an: „Es ist wirklich keine Mitte in mir, von der aus etwas zu sagen oder zu wollen wäre, fragte mich einer, ich müsste zugeben, dass ich nicht lebe.“ Diese Krise verschärft sich noch, als der „unendlich Zarte, Empfindsame“ (Koenig über Rilke) zum Militär eingezogen wird. Der Drill führt zu einer Schreibblockade, die er selbst nach seiner vorzeitigen Entlassung nicht überwinden kann.
 
„Ich wohne hier in stiller Gastfreundschaft“
 
Für den Verzweifelten wird Hertha Koenig zur Retterin in der Not. Mit „unerbittlichem Großmuth“, so Rilke, versorgt sie ihn mit Geld und Lebensmitteln und gewährt ihm Asyl auf ihrem Gut Böckel. Obwohl das feuchte Klima und die Lage des alten Wasserschlosses „im Souterrain der Landschaft“ Rilke anfangs irritieren, findet er hier die lang ersehnte „Stille und Gleichmäßigkeit“. In den gut zwei Monaten auf Böckel arbeitet er an Übersetzungen, redigiert ältere Texte und schreibt fleißig Briefe. Der breitgefächerte Adressatenkreis – vom Buchbindermeister bis zur Fürstin von Thurn und Taxis – offenbart einmal mehr seine Weltoffenheit. Ähnlich wie in den Briefen an Hertha Koenig wird eine Vielfalt an Themen verhandelt. Der Dichter sorgt sich um das Wohl von Familie und Freunden, reflektiert zeitgenössische Literatur und Kunst und erwähnt immer wieder sein „durch den Krieg unbeschreiblich bedrücktes Gemüth“. Enthüllend geradezu sind die Briefe an den Außenpolitiker Richard von Kühlmann, von dem Rilke sich eine Friedensinitiative erhofft („Ihnen ein solches Wort zuzutrauen, es von Ihnen zu erwarten“) und an die Sozialdemokratin Sophie Liebknecht, der er seine „Krankhaftigkeit und Ermüdung“ gesteht, „die der Krieg schon in mir vorgefunden hat, die er aber nun auf seine Weise bestärkt und unterstützt. Auch hier“.
 
„Auch hier“ auf Gut Böckel kann Rilke seine Schreibblockade nicht überwinden. Dennoch bleibt ihm der Aufenthalt in guter Erinnerung. Im März 1919 schreibt er an Hertha Koenig: „Ob Sie’s fühlen, wie oft ich im Stillen Ihnen Dank zudenke und Sie segne dafür, dass ich ohne Sorge bestehen kann in dieser Zeit“. Diese Worte lesen sich wie das Fazit einer Freundschaft. Drei Monate später geht Rilke in die Schweiz. Der Briefwechsel dünnt aus, um dann ganz zu enden. In Muzot, dem letzten Wohnort vor seinem Tod 1926, findet der Dichter endlich seine Schaffenskraft wieder. Hier entsteht die fünfte „Duineser Elegie“, inspiriert durch Picassos „La famille des saltimbanques“. Die Elegie selbst ist Hertha Koenig gewidmet, die das Bild 1914 auf Rilkes Vorschlag hin kaufte.
 
Für Hertha Koenig
 
Hertha Koenigs Verbindung zum spanischen Meister der Moderne ist auch den Machern der
Ausstellung „Picasso 1905 in Paris“ bekannt. Deshalb veranstalten sie am 8. Januar 2012 ihr zu Ehren in der Kunsthalle Bielefeld eine musikalisch-literarische Soirée.
 
Rainer Maria Rilke - Briefe an Hertha Koenig. 1914 – 1921
Herausgegeben von Theo Neteler
© 2009 Pendragon Verlag, Bielefeld
192 Seiten, Hardcover, mit 7 Abbildungen,
ISBN 978-3-86532-159-6 - 16,90 €
 
Rainer Maria Rilke - Briefe von Gut Böckel. 24. Juli – 2. Oktober 1917
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Theo Neteler
© 2011 Pendragon Verlag, Bielefeld
264 Seiten, Hardcover, mit 9 Abbildungen,
ISBN 978-3-86532-268-5 - Euro 19,90
 
Weitere Informationen unter: www.hertha-koenig.de und www.pendragon.de