Leuchttürme

von Karl Otto Mühl
Leuchttürme

In der kleinen Bäckerei, am Dreieckstisch, findet sich ein buntes Volk zusammen: Geschiedene, Getrennte, Einsame, Singles, Verwitwete, Analphabeten, gefügige Lehrlinge mit ihren Meistern, Gärtner, ein Kraftfahrer, der über seine acht unehelichen Kinder berichtet.
Die Hauptbäckerin verkauft ununterbrochen Brötchen, hört aber jedes Wort mit, das wir hier reden. Am Hilfstischchen neben der Türe stehen oftmals einzelne Frauen vor ihrer Kaffeetasse, die nach Einsamkeit aussehen und aufmerksam zuhören. Familienväter scheint es hier selten geben, Väter schon.
Am Dreieckstisch ist es laut. Der Installateur und ich nicken uns im Hinblick auf den Lärm verständnisvoll zu. Ein großer muskulöser Dachdecker rückt für mich beiseite: „Dann haben wir mehr Platz.“ Ich nicke gedankenvoll, mache damit deutlich, daß ich die Gesprächsbereitschaft würdige.
Der Analphabet erinnert daran, daß in Malaysia Farbe benutzt wurde – an Autos? Ich weiß es nicht mehr, aber er - die jetzt der Regen abwäscht. Er erfährt viel durchs Fernsehen. Der Landwirt, der uns Stammgäste mit Eiern beliefert, rät, entweder andere Farbe zu benutzen oder nicht nach Malaysia zu fahren.
 
Ich beschließe, auf dem Rückweg ganz kurz bei Wolfgang vorbeizufahren. Er wohnt in einem renovierten Bauernhaus neben dem alten Friedhof, aber es ist ganz in der Nähe, kostet also kaum Zeit, beruhige ich mich. Und außerdem wird er als Elektrotechniker wahrscheinlich bei seinen Kunden sein. Ich muß ihn erinnern, mir eine Rechnung zu schicken – so etwas gibt es ja nicht so häufig im Geschäftsleben. Er hat mir eine Stromleitung in die Garage gelegt, doch seit Monaten warte ich auf seine Rechnung.
Ich kenne ihn, seit er Kind war. Ich kenne auch seine beiden Brüder. Einer davon ist tödlich verunglückt, und der paßte wie er auch in keine Schablone. Er machte alles anders als andere, brachte es dennoch sogar zu einer mittleren Beamtenlaufbahn, verließ seine Frau einmal wegen einer anderen, die er aber nicht heiratete, weil er es seiner Frau nicht antun wollte, kehrte schließlich in sein Heim zurück, aus Anstand, wie er sagte, aber da hatte er wenigstens ein vorzeigbares, selbstloses Motiv, und das brauchte er wohl, denke ich.
 
Wolfgang spricht von der Vergangenheit dieses Bruders manchmal mit leichter Ironie. Das kann er, obwohl auch er sich von seiner ersten Frau getrennt hat, aber er hatte ja ein völlig vernünftiges Motiv. Sie teilte seine Neigung und seine „geistig-psychologisch-spirituellen“ Interessen nicht. Jeder mußte das als Grund anerkennen, und Wolfgang hatte auch niemals in diesem Punkt Widerspruch gehört.
Er ist zuhause, sitzt auf der Bank vor seinem Hause und blinzelt in die Sonne. Ich frage besorgt, ob alles in Ordnung sei.
„Doch, natürlich“, sagt er. Er hat nur beschlossen, weniger und ruhiger zu arbeiten. „Entschleunigen nennt man das heute“, sagt er.
Ob er denn dadurch weniger verdiene, frage ich.
„Aber nein. Keineswegs“. Er werde mir das näher erklären. Zuerst ein Beispiel: Jemand merke ja, wenn er andauernd angespannt sei, also im Stress. Dann nimmt derjenige sich vor, sich zu entspannen, und legt gleich damit los. Wolfgang sagt, er wisse nicht, was dabei herauskomme, aber es sei völlig falsch. Man müsse auf die Ebene kommen, auf der man beides nicht mehr brauche und wolle. Und er sei nun da angekommen.
 
Ich höre gespannt zu, will aber mehr erfahren. Wolfgang kenne ich ja nun, obwohl ich ihn selten sehe. Seinen Bruder habe ich zwei Jahre lang wöchentlich im Pflegeheim besucht, er lag nach einem Autounfall im Wachkoma. Wenn die Schwester zu Pflege-Verrichtungen hereinkam, ging ich hinaus, spazierte an den vereinsamten Ambulanzwägelchen vorbei, durch den verstummten Speisesaal, war nicht traurig, nicht fröhlich. Dachte nur: Andauernd suchen wir einen Grund zum Fröhlichsein, aber, verdammt, hier ist keiner, und wie müßtest du überhaupt sein, damit alles am besten zu ertragen ist? Und wie willst du sein`? Und kannst du sein, wie du möchtest? Als Zehnjähriger wolltest du einmal von eiserner Entschlossenheit sein, aber das hat wohl niemand bemerkt.
Wolfgangs Bruder, er heißt Werner, hat die Augen geschlossen. Ich gehe leise hinaus. Wird er mir je verzeihen, daß es mir viel besser ergeht?
 
Aber jetzt bin ich wieder bei Wolfgang, und er erzählt mir im einzelnen, daß er hier sitze, weil er das Prinzip der Entschleunigung übernommen habe. Er arbeite eigentlich nur noch die Hälfte der Zeit, komme aber genau so gut zurecht wie vorher.
„Hast du die Preise erhöht?“ frage ich.
Nein, im Gegenteil. Das habe er nicht. Er sage den Kunden, sie möchten für seine Arbeit einfach soviel bezahlen, wie sie für angemessen hielten. Und das funktioniere auch.
Ich beschließe, mir keine Gedanken über seine Glaubwürdigkeit zu machen. „Und die Claudia arbeitet ja auch“, sagt Wolfgang in meine Gedanken hinein. Wenn er fest glaubt, gut zurechtzukommen, ist ja schon alles gewonnen. Aber ich kann die Frage nicht lassen: „Halten dich deine Kunden nicht etwa für einen Sonderling?“
„Das haben die schon vorher getan“, sagt er grinsend. Ich glaube nicht, daß ihn ein Wahrheitsfanatiker in die Enge treiben könnte. Vielleicht will Wolfgang der Welt beweisen, daß es doch Engel gibt. Oder er hat unwissentlich die Funktion eines Leuchtturms.
 
Als ich wieder abfahre, steht mir noch sein Fachwerkhaus mit den krummen Balken, die niedrigen Räume mit Holzböden, alles verschwistert mit seinem schmalen, gutmütigen Gesicht, vor Augen.
Ich merke jetzt, daß ich diese Geschichte wie ein Märchen erzählt habe. Man kann ja auch heiter und beschwingt dabei werden, alles vergessen. Ich zum Beispiel meinen Onkel Karl, der bei Kriegsende in Rumänien als Gefangener in einem Schuppen lag, mit einem Sack zugedeckt und endlich sterben durfte; ich denke an Krankheiten und die Geschwindigkeit, mit der wir durch das Leben getrieben werden. Und daß ich immer denken muß: Irgendwann sehe ich den oder die nicht wieder. Oder hier an Wolfgang, der durch einen Erbschaftsstreit mit seinem noch lebenden Bruder auf ewig verfeindet ist.
Oder anders: Daß die Wirklichkeit hinter meinem Bericht viele Schichten hat, und daß durch alle geschehenen Fakten hindurch Kräfte wirken, die wir nicht sehen; und das gilt für unser Leben so wie für die Gesellschaft und die Weltgeschichte. Es erklingen Melodien, die wir nicht hören. So, als Werner und seine Frau, die ja getrennt lebten, viele einsame Abende lang in ihren kleinen Wohnungen die Sehnsucht nach Nähe fühlten, aber nie bemerkten, und den Wunsch, daß endlich einer käme und sagte: Schön, daß es dich gibt.
 
Diese Melodie erklingt auch für Wolfgang, er hat sich auch einmal getrennt und sich gefühlt wie jemand, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat.
Wir suchen das Schlupfloch zur Freiheit.
Vielleicht gibt es aber eine einfache Antwort: daß die Leute zueinanderfinden.
 
 
© 2011 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker