Der faszinierende Augenblick

Friedrich Seidenstücker - "Von Nilpferden und anderen Menschen"

von Frank Becker

© Hatje Cantz
Friedrich Seidenstücker
Fotografien 1925–1958
 
Seit dem 1. Oktober zeigt die Berlinische Galerie unter dem Titel „Von Nilpferden und anderen Menschen“ Arbeiten des Fotografen Friedrich Seidenstücker (1882-1966). Die Werkauswahl umfaßt - neben wenigen Landschaftsstudien, Stilleben, Sachfotografien und Akt- bzw. Portraitfotografien - mit überwiegend Bildern von Mensch und Tier als Situations- und Momentaufnahme, denn die beiden waren es, auf die Seidenstücker zeitlebens seinen Fokus gerichtet hatte, den Zeitraum von 1925 bis 1958. Ein 1987 vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz herausgegebener Bildband über Friedrich Seidenstücker trug den vieldeutigen Titel „Der faszinierende Augenblick“. Das kann man generell über die treffsicher auf Platte und Film gebannten Fotografien dieses meisterhaften Fotografen stellen. Mit dieser ersten größeren Retrospektive (226 Originalfotografien, wovon 205 Blätter Originalabzüge/Vintage-Prints sind) wird das fotografische Schaffen Friedrich Seidenstückers in der bis zum 6. Februar 2012 zu sehenden Ausstellung eindrucksvoll dokumentiert. Der Verlag Hatje Cantz hat dazu in Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie und ihrem Förderverein, dem Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Stadtmuseum Berlin ein opulentes Katalogbuch herausgegeben, das auf 328 großformatigen Seiten und schwerem

Ball-Geflüster, um 1929
Kunstdruckpapier Seidenstückers Werk und das Gesicht Berlins von 1925-1958 abbildet.
 
Das Leben festgehalten
 
Beinahe jeder Berliner kannte zu seinen Lebzeiten die Aufnahmen, die u.a. in der Berliner Illustrierten Zeitung, der Berliner Morgenpost, im Tagesspiegel, der Vossischen Zeitung, in Volk und Welt, in Die Woche und im Uhu erschienen sind.. Seidenstücker dokumentierte mit wachem Blick das Alltagsleben der Weimarer Republik, des Dritten Reichs und der Nachkriegsjahre in Berlin. Die ungeschönten Blicke auf das Elend des fast völlig zerstörten Berlin sind ebenso Zeitdokumente von unschätzbarem Wert wie die en passant festgehaltenen modischen Details der 20er, 30er, 40er und 50er Jahre. Es ist die fehlende „Schminke“, die seine Bilder so anziehend macht, die Menschen in Alltagssituationen zeigen, ob es Badende am Wannsee sind, Dienstmänner an Bahnhöfen, Koks-Kerle, Fischweiber, Straßenarbeiter, Schlachter, elegante Müßiggänger,  flirtende Tennisspieler, Kinder beim Spiel, Zigeuner, BDM-Mädels, Schutzleute, Hobby-Fotografen oder Ausflügler am Wochenende. Seidenstücker hielt das Leben fest. Die Fotos von Zigeunern mit ihren Pferdewagen haben Seltenheitswert, die von körperlich arbeitenden Menschen zeigen Arbeitsbedingungen, wie sie heute kaum mehr vorstellbar sind.   
 

Akt o.T., 1950er Jahre
Akt und Pfützenspringerinnen

 
Offenbar besonders gerne hat er bei Regenwetter an großen Pfützen Damen „aufgelauert“, die er dann beim beherzten Sprung über die Wasserfläche ablichtete - seine reichlich dokumentierten „Pfützenspringerinnen“ (Katalog Nr. 134-141) haben ihn berühmt gemacht. Der Katalog-Titel zeigt eine davon.
Nur wenige weibliche Akte enthält der Katalog, doch ist hier wie auch im Vergleich mit dem Bildband aus dem Jahr 1987 zu erkennen, wie sehr Seidenstücker zeitlebens einem ästhetischen Ideal ausgeprägter Weiblichkeit zärtlich zugetan war.
Der Ausdruck dieser Fotos zeigt eine nachvollziehbare Lust des Auges, wie sie auch bei anderen Frauenporträts Seidenstückers greifbar ist. Ob beim „Turm der wilden Mägde“ (1948), der Schlafenden in „Ministergärten“ (1947), den naßglänzenden Popos der vier Schwimmerinnen in „Glanzschichten“ (1928) oder den aussagekräftigen Sportlerinnen-Portraits im „UHU“ der 30er Jahre unter dem Motto „Wo kommen die vielen hübschen Berlinerinnen her?“ – Seidenstücker hatte auch ein gutes Auge für plakative Erotik. Zu seinen bekanntesten, zugleich pikantesten Bildern gehört das 1948 aufgenommene Doppelportrait der Zwillinge Hilde und Helga Fischer, das an unterschwellig knisternder Lolita-Erotik kaum zu überbieten ist.  
 

Die Zwillinge Hilde und Helga Fischer, 1948


Das Tier als Mensch
 
Seine ungemein humorvollen dennoch stets mit einem gewissen Ernst unterlegten Tierstudien, welche eine seelische Nähe zwischen Tier und Mensch fühlen lassen, sind legendär geworden. Mit tiefem Humor zeigt er Tiere mit menschlichen Verhaltensweisen, wechselt er oft die Perspektive, indem er bei seinen Zoo-Aufnahmen gelegentlich den Menschen hinter dem Gitter stehen und ihn vom Tier als Kuriosum beäugen läßt. Besonders berühmt ist das Foto eines Eisbären geworden, der anscheinend völlig entspannt in seinem Käfig sitzt und sich die Menschenmenge vor/hinter den Gitterstäben anschaut. Berlins beliebtestes Nilpferd „Knautschke“, zu dem am Wochenende Heerscharen pilgerten neugierige Nashörner, Bären, Büffel, Schweine und Ziegen, attackierende Gänse und planschende Walrosse – Seidenstücker hat sie alle. Wirklich komisch sind auch die Momentaufnahmen, in denen er durchaus auch selbstironisch Fotografen beim fotografieren von Tieren beobachtet hat.


 Eisbär, 1929
 
Berlin in Trümmern
 
Ein besonderes Kapitel widmen Ausstellung und Katalog den erschütternd nüchternen Fotos aus dem zerstörten Berlin nach 1945. Erst beim Betrachten von Bildern des quasi planierten Tiergartens, zuvor der zentrale Erholungspark der Stadt gewesen, der ausgebombten Neuen Staatskanzlei, der mahnend gen Himmel zeigenden Mauerreste, der Trümmerfrauen, des verwüsteten Reichstagsgeländes und des Elends entwurzelter Kriegsheimkehrer wird vielleicht die heute junge Generation begreifen, was Krieg und Zerstörung wirklich bedeuten. Man darf der Ausstellung viele Schulkassen als Besucher wünschen.


Berlin, 1945
 
 
Friedrich Seidenstücker. Von Nilpferden und anderen Menschen.
Fotografien 1925-1958
© 2011 Verlag Hatje Cantz, 328 Seite, gebunden, Fadenheftung, 23,5 x 27,5 cm, in Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie und ihrem Förderverein, dem Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Stadtmuseum Berlin
Mit erläuternden Aufsätzen von Ulrich Domröse, Christoph Ribbat, Florian Ebner, Wolfgang Brückle, Sabine Schnakenberg, Antje Schunke und Ulrike Griebner.
 
Alte Jakobstraße 124-128 - 10969 Berlin-Kreuzberg
1.10.2011 – 06.02.2012, Mi bis Mo, 10:00 bis 18:00 Uhr

Weitere Informationen:  www.hatjecantz.de   und   www.berlinischegalerie.de


Herbst im Zoo, 1955

© 2011 für alle abgebildeten Werke von Friedrich Seidenstücker:  Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin /Camera Work AG Berlin/Galerie Berinson Berlin/Stiftung Stadtmuseum Berlin/Stiftung Ann und Jürgen Wilde/Pinakothek der Moderne München