Das Gletscherschiff

Aus einem Brief des sagenhaften Furianetto

von Dorothea Renckhoff
Das Gletscherschiff

Aus einem Brief des sagenhaften Furianetto
 
 
Sirenetta,
      
       wenn Du mich wirklich hier aufsuchen wolltest, so müßtest Du nur nach dem hundertstämmigen Baum vor dem Haus suchen; das Grün seiner Zweige fügt sich zu einer einzigen kugeligen Krone, doch wenn der Wind hineingreift, zerteilt er sie in mehrere flache Schichten, die er gegeneinander bewegt, und ich sehe von meinem Tisch am Fenster aus hinein wie in die sich rührenden Kulissen eines Papiertheaters. Ich werde sicherlich noch fünf oder sechs Tage bleiben, denn ich muß den zweiten Boten abwarten; es bliebe Dir also noch genug Zeit, um Dich hier mit mir zu vereinigen. Kämest Du aber später, so wäre ich wohl schon fort und vielleicht auf einem Wege, auf dem Du mir nicht folgen kannst.
       Ich befürchte ein Unglück, das ich nicht miterleben möchte. Das ewige Eis schmilzt auf den Bergen; die Welt wandelt sich immer rascher. An manchen Stellen drängt schon der Fels ans Licht, und ich weiß doch noch, wie gewaltig der Gletscher ins Tal herunter leckte, als ich zum ersten Mal hier war. Damals konnte man über den gefrorenen Strom aufsteigen bis zu jenem riesigen Schneefeld hoch oben, das täuschend den Abgrund zwischen den umliegenden Gebirgsmassiven deckt; aber Manchen hat ein plötzliches Zucken der weißen Zunge herabgestürzt, andere wurden von aufklaffenden Spalten ins Bodenlose geschluckt oder von Lawinen erstickt. Ich selbst mußte dort hinauf, denn über den erstarrten See in der Höhe führte der Weg zu jenem fernen Dorf im Gebirge, von dem ich Dir erzählt habe. Bis heute wird es wegen seiner vollkommenen Abgeschiedenheit zuweilen als Versteck gewählt, zur Übergabe geheimer Botschaften oder als Treffpunkt, und wer den Auftrag bekommt, muß hin, egal wie.                    
       Mein gefährlicher Aufstieg wurde belohnt durch den Anblick des Gletscherschiffs, mit dem ich die erstarrte Wasserflut überqueren sollte. Es schwebte so leicht über die unebene Fläche, über lose Brocken und Schluchten, als gleite es auf einem luftgefüllten Kissen, fast wie die Tragflügelboote von heute, aber es bewegte sich dabei mit solcher Majestät, wie ich es nie wieder gesehen habe; kein Wagen, kein Boot oder Flugwerk atmet diese Erhabenheit, und in meinen glücklichsten Träumen sehe ich manchmal noch seine blauseidenen Segel.
       Heute ist es schon lange zerstört, und auch der Aufstieg auf das weiße Feld ist nicht mehr möglich, seit dem Unglückstag, als der kalte Palast barst. Niemand hatte geahnt, daß das Eis unter seiner festen Oberfläche einen stetig steigenden Schmelzwassersee verbarg, der wuchs und schwoll, bis er, früh am Morgen, unvermittelt die untere Gletscherwand durchbrach und als riesige Flutwelle ins Tal stürzte. Den halben Gletscher hat es heruntergerissen, das Schiff mit, und zwischen den Ruinen des Dorfs am Hang unten, zwischen Trümmern, Schlamm und Toten fanden sich die Splitter seiner Planken und Fetzen von seinen Fahnen. Jetzt ist die Straße über den FURCHTBAREN Paß der einzige Zugang zu dem entlegenen Dorf, und ich kenne Keinen, der sie freiwillig zum zweiten Mal genommen hätte.
       Seitdem ist viel Zeit vergangen, viel ewiges Eis ist geschmolzen, und ich fürchte, es steht ein ähnliches Unglück bevor wie das von damals. Denn ich glaube, daß nicht der ganze See abgeflossen ist und daß das Unheil ein noch gewaltigeres Wasserreservoir bereit hält, das hinter einer dünnen gefrorenen Wand darauf lauert, herabzubrechen und den Ort hier endgültig zu vernichten. Darum komm in den nächsten Tagen zu mir, wenn Du willst und kannst; ich muß den zweiten Boten abwarten - es kann nicht allzu lange dauern, bis er kommt - und dann weiterreisen, wohin man mich schickt.
       Der erste Bote, wie es der Zufall wollte, war erst vor kurzem aus dem fernen Tal über den FURCHTBAREN Paß herunter gekommen. Der Schrecken stand noch immer in seinen Augen, und seine Hände waren kalt. Er hatte die Spur eines Einbeinigen verfolgt, der wirklich eine Zeit lang in dem Tal gelebt und die Dorfbewohner mit goldenen Münzen bezaubert haben, eines Morgens jedoch verschwunden gewesen sein soll. Der Reisende sprach von Elend und Aberglauben, die den Weiler beherrschten, offenbar noch schlimmer als schon damals. Mir war der Ort wie ausgestorben erschienen, als ich ihn zum ersten Mal betrat, bis in der Abenddämmerung ein paar schwarze Knappen aus dem Berg krochen, wie Käfer; erst dann stieg Rauch auf aus den Schornsteinen, und Mädchen und Frauen in einer merkwürdigen Tracht zeigten sich vor den Häusern.
       Doch als ich am Morgen vor das Wirtshaus trat, lag alles wieder verlassen, nur ein einzelner Fischer zog gerade sein Boot aus dem dunklen See und schien etwas zu murmeln dabei, und ein riesiger Fisch schnellte sich vor ihm aus dem Wasser und blieb auf dem Weg liegen. Der Mann sprang mit beiden Füßen auf den sich windenden Leib, als wollte er ihn an den Boden nageln, aber das Tier zappelte so heftig, daß er das Gleichgewicht verlor, und es wäre ihm entschlüpft, wenn ich nicht, ich weiß nicht, warum, meinen Mantel darüber und mich selbst hinterher geworfen hätte. So hielten wir das große Wesen eine Weile, bis seine Bewegungen matter wurden. Auf ein Zeichen von ihm erhob ich mich mit fischigen Armen und feuchter Brust, und er verschwand mit seiner Beute und mit meinem Mantel, aber die Wirtin hatte alles gesehen und versprach mir mein Kleidungsstück zurück.
       Sie war eine sehr junge Frau und hatte gerade ihr Kind verloren, noch ganz klein; sie trauerte schwer und wimmerte nachts selbst wie ein Kleinkind, weil sie die tausend Schwären, die den Säugling umgebracht hatten, in ihren Träumen an dem winzigen Körper immer wieder vor sich sah und im Schlaf so wenig helfen konnte wie zuvor im Wachen. Ihr Mann sah allem, was geschah, mit stummer Ängstlichkeit zu. Als Mesner hatte er zu festen Zeiten in der alten Dorfkirche zu läuten, direkt am See, gegenüber dem Gasthof; der Klang wehte weit über das Wasser und über die Wälder, und ich wollte es erst nicht glauben, daß die volle Stimme dieser Glocke sich aus dem Ziehen und Zerren des spärlichen Männchens am Seil speiste. Sie drang selbst durch Gewitter und Sturm, es sei ein Gebet in ihren Rand gegraben, sagte die Mutter des toten Kindes, und ‚o rex gloriae veni cum pace’ hörte ich sie einmal dicht neben mir flüstern, als wir während eines Unwetters in der giftigen Dunkelheit beisammen waren. Bei jedem Unwetter mußte der Mesner läuten, denn das abergläubische Volk im Dorf hielt die lateinischen Worte für eine Beschwörung von Donner, Blitz, Wind und sogar von Erdbeben.
       Ich habe selten derartig in Zauberkram und Geisterseherei verfangene Menschen erlebt wie in diesem Ort; sie fürchteten das Wasser im See und die Steine in ihren eigenen Häusern, und die Armut im ganzen Tal schien mir allein der Halsstarrigkeit geschuldet, mit der sie den einen Schritt und die andere Handlung verweigerten, weil sie ihnen als unglückbringend galten. Die Wirtin konnte mich daher in einem schönen Haus unterbringen, wo aus irgendeinem unheilvollen Grund niemand wohnen wollte; da lebte ich ganz allein, in den Wiesen, nicht weit vom Gasthof. Man brachte mir eine Tafel am Weg an, damit ich den Zugang nicht verfehlte, mit Blumen darauf, jeden Tag neue, als seien sie am Morgen frisch aufgeblüht, aber niemand wollte sie gemalt haben. Man wagte sich auch nicht in meine Nähe und beobachtete mich scheu aus der Ferne, vor allem, wenn ich mich dem Seeufer näherte, und erst an einem der wenigen Sonntage, die ich dort war, schob sich ein alter Mann zu mir in die Kirchenbank und redete von seinen Kriegsdiensten, um mich dann zu fragen, woher ich käme. Ich erzählte ihm von der Stadt in der Lagune, von Kanälen und Brücken und Glasbläsern und von den durchscheinenden Blumen und Früchten, die sie aus ihren Pfeifen trieben, aber ich glaube, er verstand mich nicht oder hat mir nicht geglaubt und hat den anderen verworrene Dinge über mich gesagt.
       Vom Königreich beider Sizilien habe ich nur der jungen Wirtin einmal erzählt, und von der kleinen Heiligen, die sie dort verehren, weil sie die Kinder und die Gefolterten tröstet. Ihren Namen wollte die Mutter des toten Kindes wissen, und sprach ihn dann leise vor sich hin, Philomena, immer wieder, Philomena aus den Katakomben, und ich sah, daß sie an das Siechtum ihres eigenen Kindes dachte und Trost auf sein geschundenes Körperchen herabflehte, das doch schon seit vielen Tagen in der Erde lag. Was für sie selbst Trost sein konnte, davon gab ich ihr, so oft und so viel mir möglich war, aber es vergingen kaum drei Wochen, da stand ein Salzfuhrmann vor meiner Tür mit der Botschaft, die ungesehen zu empfangen ich hergekommen war; sie lag in der Rückwand eines kleinen venezianischen Spiegels verborgen, ohne daß der Überbringer davon wußte. Es hätte ihn wohl auch wenig interessiert; ohne Regung gehen diese Leute neben ihren Pferden, hinter dem schwer rollenden Wagen, die Fremde lockt sie nicht, keine Stadt, kein Bauwerk fesselt ihren Blick, und gleichmütig kehren sie zurück in ihr abgelegenes Dorf, immer wieder über den FURCHTBAREN Paß, die einzigen Menschen, die das stets aufs neue wagen, und das mit völliger Gleichmütigkeit, als hülle eine dicke Salzkruste ihnen Herz und Hirn ein und schütze sie vor dem Schrecken.
       Ich ließ den Mann gehen und zog die Nachricht aus dem Versteck, um sie an meinem eigenen geheimen Ort zu verbergen, doch den werde ich auch Dir nicht nennen. Dann fügte ich Glas und Rückwand wieder in den blumenverzierten Rahmen und ging zum Gasthof. In einer Lücke der Buchenhecke hinter meinem Haus hatte sich ein Busch von falschem Jasmin versteckt, erst im Vorbeigehen spürte ich den Duft, ich wandte den Kopf und sah die weit geöffneten weißen Blüten zwischen die fremden Zweige geschmiegt, ein Fries von Sternen, unerwartet, als leuchteten sie durch die Wand in einen dunklen Stall.
       Ich schenkte der Wirtin den Spiegel zum Abschied, und dann verließ ich das Dorf, wie ein Fremder, der das Tal und den See und alles, was geschehen war, in der Erinnerung mitnimmt als eine von unzähligen Geschichten, wie eine Galerie bunter Bilder, die immer kleiner werden, je weiter sie zurückliegen. Dann falten sie sich zusammen, ganz still in einer dunklen beinernen Kammer, hinter den Augen, zuletzt nur noch ein zusammengerolltes Band, dessen Farben ineinander fließen. Nur manchmal zupfe ich daran, wenn ich warten muß in leeren Zimmern und kahlen Räumen, dann teilt sich das Muster wieder in Gesichter und Orte, und zuweilen beginnt eines von innen zu glühen und schwillt an und wächst empor und bedeckt die kahlen Mauern. Doch wenn die Tür geht und die Botschaft kommt, wenn der Wagen draußen hält… dann schrumpft alles wieder ein, und die Wände sind leer wie zuvor. Und die Tür steht offen und schlägt im Wind.
       Der Reisende, den ich hier traf, hat mir erzählt, daß der venezianische Spiegel heute in einem der schönsten Zimmer des Gasthofs hängt, in einem der Räume, wo jener Einbeinige gewohnt haben soll, dem er gefolgt ist. Auch die Wirtin lebt noch dort, und der Mesner haust für sich in einer Kammer unter dem Dach.
       Ich sehe von meinem Fenster aus das weitgespannte weiße Tuch zwischen den Bergen; dort oben hat das Gletscherschiff mich über das Eis geführt. Jetzt ist das ferne Tal mir unerreichbar geworden. Die gefrorene Fläche ist immer noch groß, auch wenn so viel davon abgeschmolzen ist, und sie ist trügerisch und brüchig.
       Die Straße über den FURCHTBAREN Paß werde ich nie wieder nehmen, das habe ich geschworen, als ich aus dem abgeschiedenen Dorf zurückkam. Die Salzfuhrleute gingen, als wären sie aus Holz, aber die Pferde scheuten, sie waren voll Angst und wollten schon bei den letzten Kehren unterhalb der Paßhöhe nicht weiter. Die Männer traten und schlugen und stießen sie mit spitzen Stöcken, und doch dauerte es lange, lange, bis wir oben waren; aber dort blieben die erschöpften Tiere nicht stehen, sondern fielen in einen wankenden Trab, sie stürzten vorwärts, um den schrecklichen Ort so rasch wie möglich hinter sich zu lassen; einige stolperten und fielen, und die andern schleiften sie im Geschirr mit. Ich weiß nicht, was dort lauert, und keine der Schauergeschichten, die man sich erzählt, kann das Grauen erklären, das über dieser Wasserscheide und dem alten Haus an der Straße hängt. Wie giftiges Gas wälzt es sich über den Boden und hüllt alles ein, Wagen, Pferde und Menschen, es durchdringt Haut und Fleisch und läßt keinen erlösenden Schrei zu, sondern lastet schwer im Innern, noch lange, nachdem man die Berge hinter sich und den Wiesengrund erreicht hat. Und vielleicht befreit man sich nie wieder davon.
       Ich sitze an meinem Tisch am Fenster und sehe den Gletscher so silbrig in der Sonne liegen. Er läßt mir das abgeschiedene Tal dort oben fast als eine verzauberte Insel erscheinen, und doch herrschten schon damals Krankheiten und furchtbare Armut im Dorf, und seitdem hat es sich, wie mir der Reisende sagte, in ein stinkendes Pandämonium verwandelt, wo geistig und körperlich verkrüppelte Gestalten ihr Wesen treiben, halbtot, belebt nur noch von Gier und Fäulnis. Die Kirche sei baufällig und verschlossen, die Kinder verkrüppelt, die Erwachsenen zu schwach für die Arbeit, die Häuser fast alle in Ruinen und das verhungernde Vieh in den Wald gelaufen. Nur jener Fischer, der kurz nach meiner Ankunft das riesige Tier aus dem schwarzen Wasser zog, hole noch immer volle Netze ein, und auch im Gasthaus herrsche noch Leben. Die Wirtin habe keine Kinder, doch sie habe eine junge Frau ins Haus geholt, die Tochter einer verstorbenen Schwester oder Freundin, er wisse es nicht genau, behauptete der Reisende, doch auch sie habe bereits ein Kind, und es sei gesund.
       Ich würde dieses abgeschiedene Tal so gern noch einmal besuchen. Ich möchte die junge Frau sehen, der Reisende sagt, sie heiße Philomena. Ich kann das für keinen Zufall halten. Aber der Weg in das Dorf, so kurz die Entfernung von hier aus auch zu sein scheint, ist mir versperrt.
       Doch das ewige Eis schmilzt auf den Bergen. Man sagt, daß der Gletscher dort oben hinter seinen transparenter werdenden Eiswänden den Schemen eines zweiten Gletscherschiffes zu enthüllen beginnt, das, vor langer Zeit von gefrierenden Wasserfällen, von gepreßtem Schnee und erstarrenden Bächen in der Bewegung festgebannt, jetzt darauf wartet, seine Reise fortzusetzen über die Reste des großen Gletschers von einst, sobald erst die gefrorenen Tropfen sich lösen und das Wasser wieder zu rinnen beginnt. Und wenn dieser Tag kommt, ehe das Unglück eintritt, mit dem ich rechne, und wenn mich mein Auftrag an diesem Tag wieder hierher führt zu dem hundertstämmigen Baum, dann, vielleicht, wird mir gestattet sein, noch einmal ein Gletscherschiff zu besteigen und den so nahen fernen Ort zu erreichen, wohin der Name Philomena mich ruft.
 



© 2011 Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern