Zeeland literarisch

Margriet de Moor - "Sturmflut" und Rinus Spruit - "Der Strom, der uns trägt"

von Johannes Vesper
Zeeland literarisch

Die niederländische Provinz Zeeland (Seeland) ist für Ruhr- und Rheinländer ein naheliegendes Feriengebiet. Schwimmen, Surfen und Segeln an seeländischen Stränden erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Touristen, die darüber hinaus sommers mit Ringstechen und Antikmärkten unterhalten werden. Über Dünen und Strand sieht man von allen seeländischen Inseln aus die bis zu 65 m hohen Pfeiler des 9 km langen Oosterschelde-Sturmflutwehrs, welches als Reaktion auf die Sturmflutkatastrophe vom 1. Februar 1953 gebaut und 1986 fertiggestellt wurde. Knapp 2000 Tote waren 1953 zu beklagen, 72.000 Menschen wurden evakuiert. 500 km Deich waren durch das Hochwasser zerstört worden. Margriet de Moor hat diese Katastrophe literarisch bearbeitet. Ihr Roman über die Sturmflut in Seeland liegt schon seit einigen Jahren vor (neu bei dtv, 352 Seiten, € 9,90). Außerdem fallen zwischen Dünen und Strand dem aufmerksamen Radfahrer Bunker und Panzersperren aus Beton auf. Dabei handelt es sich um Reste des Atlantikwalls. Seeland war im 2. Weltkrieg von der deutschen Armee besetzt. Im Rahmen der Befreiung durch die Alliierten war durch Bombardement der Deiche Seeland schon einmal 1944 überschwemmt worden.
Diese großen Katastrophen Seelands sind als Landschaftsnarben also noch erkennbar.
 
Margriet de Moor - "Sturmflut" - Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
© 2011 dtv,  352 Seiten (Dezember) - ISBN 978-3-423-08636-3
9,90 €

Von den früheren Lebensverhältnissen der Seeländer aber vor diesen Katastrophen und vor dem Aufbau nach dem 2. Weltkrieg, vor dem Bau des Atomkraftwerks in Borssele und des neuen Hafens in Vlissingen-Oost, vor dem Bau des Scheldetunnels zwischen Seeland und Niederländisch-Flandern, also vor den modernen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen und vor dem Ansturm der
Touristen in den letzten Jahrzehnten erzählt in der Familiengeschichte von Rinus Spruit: „Der Strom, der uns trägt“ der alte Reetdachdecker, 1911 geboren, seinem Sohn, der diese Erzählungen aufschreibt. Die kurzen, überhaupt nicht nostalgischen, teilweise privaten Geschichten schildern das einfache und schwere Leben von Menschen, die ihre Lebensumstände nicht selbst bestimmen konnten, die bei jedem Wetter - im Sommer unter Gewittern, im Winter auch bei Sturm, Nebel und Kälte - ihrer kaum ausreichend bezahlten Arbeit nachgingen und bei auswärtigen Arbeitsstellen in Scheunen zwischen Kartoffelkisten und Strohballen schliefen, die in den Arbeitspausen ihre kargen Schmalzbrote vertilgten. Hinter dem kleinen eigenen Haus wurden immer Schweine gehalten und ein Höhepunkt im Alltagsleben war das Schlachten eines Schweins zu Hause, zweimal im Jahr. Wie das Schwein vom Vater zwischen Scheune und Haus abgestochen wird, wie die Borsten abgesengt werden, wie es erst nach einem Schnaps für den Schlachter zerlegt wird – nichts vom Schwein geht verloren, alles wird verwendet - solche Erfahrungen können wir heute in der Regel nur noch literarisch sammeln. Die Familiengeschichte schildert Lebensverhältnisse in Seeland, wie man sie heute auch dort nicht mehr kennt. Dem Besucher Seelands wird mit dem schmalen Band sozusagen eine alltagshistorische, dritte Dimension der Ferienlandschaft, die er als Tourist besucht, eröffnet.
 
Rinus Spruit - "Der Strom, der uns trägt" - Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
2011 dtv premium Deutsche Erstausgabe, 137 S. ISBN 978-3-423-24864-8
13,90 €
 
Weitere Informationen unter: www.dtv.de

Redaktion: Frank Becker