Der Sog der Worte

Bernhard Schlink - "Sommerlügen"

von Frank Becker

Umschlagmotiv: August Macke, Sitzender Akt, 1911
Literatur mit Suchtpotential

Erzählungen von Bernhard Schlink
 
Die internationale Resonanz auf Bernhard Schlinks Erfolgsroman „Der Vorleser“ (1995) und seine „Selbs“-Trilogie (1987-2001) um einen eigenwilligen Detektiv haben nachhaltig seinen Weltruhm begründet, doch auch die Kurzprosa des Verfassungs- und Verwaltungsjuristen und vielseitigen Schriftstellers ist über die Maßen beeindruckend. Mit dem Band „Liebesfluchten“ stellte er das bereits vor 10 Jahren unter Beweis - im vergangenen Jahr folgte als weiterer literarischer Geniestreich eine Sammlung von Erzählungen mit dem Titel „Sommerlügen“.

Sieben bewegende, originelle, dramatische, liebevoll erzählte und ganz gewöhnliche Geschichten um, natürlich, die Liebe, um Glück und Hoffnung, Verlust, Abschied und Illusion, um Väter und Söhne, um das Werden im Alter, die Angst vor dem Leben und vor dem Tod und um Fremde, die einem näher sind, als man glauben mag, ja sogar veritable Kriminalgeschichten versammelt der Band. Dichter und Juristen spielen eine Rolle, was kaum Zweifel an der ganz persönlichen Motivation des Erzählers erlaubt. Seine Figuren nimmt er aus seiner eigenen Welt, aber auch aus Ihrer und meiner - Menschen eben, wie sie uns begegnen, ohne daß wir sie vielleicht bewußt wahrnehmen. Bernhard Schlink schält sie aus der Anonymität macht sie zum Teil der damatis personae des Welttheaters. Siebenmal pures Lese-Gold. Schlinks Weltläufigkeit, sein Alter von 67 Jahren mit Lebensmittelpunkten in Deutschland und den USA und sicher auch seine juristische Erfahrung kommt den nie engen, niemals pastos aufgetragenen, stets klugen Geschichten entgegen.
 
Die Worte und die Gedanken dahinter zieht den Leser wie mit einem Sog in die Lektüre, fesseln mit leicht erscheinenden Sätzen wie „Als er nach einer Viertelstunde noch immer keine Zeile gelesen und keinen Schluck getrunken hatte, dachte er: Ich habe das Alleinsein verlernt. Er mochte den Gedanken.“ (aus: „Nachsaison“), „Er sah auf die braune Papiertüte mit Flasche in seiner Hand und dachte an die Stadtstreicher, die in New York mit braunen Papiertüten auf den Bänken im Central Park saßen und tranken. Weil sie ihre Welt nicht zusammengehalten hatten.“ (aus: Das Haus im Wald“),  „Er nahm Therese mit, weil sie darauf gehofft hatte. Weil sie sich darüber freute. Weil sie in ihrer Freude eine fröhliche Begleiterin war. Weil es keinen guten Grund gab, sie nicht mitzubehmen.“ (aus: Die Nacht in Baden-Baden“) oder „Der Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage. Als sie sich am nächsten Morgen fragte, was den Verlust der Liebe ausgelöst hatte, fand sie keine Antwort.“ (aus: „Die Reise nach Süden“).

Ich wollte dieses Buch in seinen sieben delikaten Abschnitten wie ein litararischer Gourmet an sieben Abenden lesen. Es gelang mir nicht - ich wurde zum Lese-Gourmand und verschlang es in einem Zug. Nun gönne ich mir gelegentlich die Lektüre der einen oder anderen Geschichte. Jedesmal ein neues Vergnügen. Bernhard Schlinks „Sommerlügen“, die die Größe der grandiosen Prosa William Somerset Maughams haben, gehören zu Besten, was die zeitgenössische Literatur zu bieten hat.
Dafür unsere Auszeichnung, den Musenkuß! 
 
Bernhard Schlink – „Sommerlügen“
Geschichten
© 2010 Diogenes Verlag, 279 Seiten, Leinen mit Lesebändchen und Schutzumschlag – ISBN: 9783257067538
19,90 €

Weitere Informationen:  www.diogenes.ch