Die präsentische Vergangenheit

oder: von der Schwerelosigkeit der Zeit

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker
Die präsentische Vergangenheit

Alle Menschen kennen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und trennen genau das eine vom anderen. Nicht so der Rheinländer: ihm fließen das, was gewesen ist, was ist und was sein wird zu einem Zeitgefühl zusammen, in dem alle Grundgesetze der Physik aufgehoben sind. Er weiß at lang, was die Physiker jetzt erst so langsam entdecken: daß selbst die Zeit relativ ist, nach dem Motto: nichts Genaues weiß man nicht. Es gibt im Rheinland die präsentische Vergangenheit. Was das ist? Jo, passens up: es klingelt. Mein Hausbesitzer steht in der Tür und sagt: "Eijentlich wollt ich jar net herjekumme sinn...", aber, obwohl er betont, daß er gar nicht hergekommen sein wollte, steht er da. Jetzt. Oder: er sitzt dem Arzt gegenüber und meint: "Also, normal bräucht ich jar net hierjewesen zu sein...", sitzt aber da. Solche Sätze kann ja nur einer sagen, der im Moment, also in der Gegenwart, gerade da ist. Oder, noch schöner: das Abschieds-Ritual. Wir wissen, daß es immer eingeleitet wird von der Floskel: "Also dann...!". Jeder weiß, aha, der Rheinländer will sich jetzt verabschieden. Und diesem "Also dann...!" folgt fast immer eine Frage in präsentischer Vergangenheit: "Bisse weg?". Er steht aber, obwohl er gefragt wird, ob er schon weg sei, da, vor uns. Und er antwortet obendrein : "Jo!". Er kann also im Grunde Wunder wirken: aus der Zukunft antwortet er auf eine Frage, die die Gegenwart als schon vergangen bezeichnet hat: "Bisse weg?" "Jo!". Im Rheinland zu leben, heißt also, schwerelos sich durch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegen zu können. Und wer das richtig verinnerlicht hat, der wird diesen Schwebezustand nie mehr missen wollen: die rheinische Leichtfüßigkeit im Umgang mit der Zeit. Also dann, in diesem Sinne, ne, schsinn at fott!
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 
 
 © Konrad Beikircher - Redaktion: Frank Becker