Beispielsweise Künstlerhäuser

Ein Besuch in Jalta bei Anton Tschechow

von Dorthea Renckhoff

Jalta Zarenresidenz - Foto © Dorothea Renckhoff

Jalta: Rendezvous mit der Dame 
mit dem Hündchen


Belebt war sie immer, die Hafenpromenade von Jalta, und belebt ist sie noch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind es nun nicht mehr Parteibonzen oder "verdiente Werktätige", die hier im milden Klima der Krim eine Auszeit vom russischen Winter nehmen – jetzt flanieren Touristen aus aller Welt am Kai und genießen den Blick über eine der schönsten Buchten der Welt, zwischen grünen Hängen und schneeweißem Sand. Manche drängen zu den Bussen, die ganze Karawanen nach Liwadija transportieren, der Sommerresidenz des letzten Zaren, der in diesem Märchenschloß nur ein einziges Mal Ferien machte, ehe die Revolution ihn vom Thron und in ein elendes sibirisches Grab fegte. An seiner Stelle nahm im Februar 1945 die Weltpolitik Besitz von den schneeweißen Mauern: Churchill, Roosevelt und Stalin berieten hier die neuen Grenzen im Nachkriegseuropa; der Konferenztisch von damals ist ein Publikumsmagnet von heute.


Jalta Promenade - Foto © Dorothea Renckhoff

Andere zieht es an den feinsandigen Strand, und wieder andere posieren für Fotografen mit den vielen theatralischen Requisiten, die nur zu diesem Zweck über Hunderte von Metern zu einer bombastischen Kulisse aufgebaut worden sind: Barocke Sessel, Samtportieren, Rokokosofas, schwere Motorräder – zu allem gibt es fürs Erinnerungsfoto auch das passende Kostüm, und wer will, darf sogar einen lebendigen Raubvogel auf die Faust nehmen. Und kneift man in all dem heiteren Schlendern nur ein wenig die Augen zusammen, sodaß die modernen Bauten am Berghang mit den alten Villen in eins verschwimmen, dann sieht man vielleicht in einiger Entfernung eine zarte Gestalt in der Menge verschwinden –  Anton Tschechows berühmte "Dame mit dem Hündchen", hier kann man ihr begegnen.

Auch ihren Schöpfer kann man besuchen. Nur eine kurze Fahrt mit Bus oder Taxi, und man steht vor der "weißen Datscha", jenem Haus, das der Dichter sich 1899 bauen ließ, über der Stadt damals, mit dem weiten Blick zu den Bergen und über das fast immer blaue Meer. Den Garten am Hang mit den üppigen Bäumen und Büschen hat er selbst angelegt, die verschlungenen Wege geplant und

 
Anton Tschechow
eigenhändig 100 Rosensträucher gepflanzt, weil der Geburtstag des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin sich gerade zum 100. Mal jährte.

Im Haus führen freundliche Frauen mit faltigen weichen Gesichtern, mit verwischtem Lidstrich um immer noch riesige Augen den Besucher durch die Zimmer, jede Herrin über ihr Stockwerk. Stolz und mit großer Liebe werden die Dinge gezeigt, die er noch benutzt hat, der Schaukelstuhl in der Veranda, sein Mantel im Schrank – ein hochgewachsener Mann ist er gewesen, dieser Tschechow! – die Fotos an den Wänden, mit Freunden, mit Mutter und Schwester, die hier mit ihm lebten, mit einem seiner Rosenbüsche - und den erkennt der Besucher wieder, er wächst draußen am Fenster, der Stamm ist zum Baum geworden, aber er blüht noch immer.

Gezeigt wird auch das schmale Bett, wo der Autor nächtliche Hustenattacken und manchen Blutsturz durchlitt. Seine Tuberkulose hatte ihn aus Moskau in den Süden verbannt; sehnsüchtige Briefe schrieb er aus dem paradiesischen Ort in die Hauptstadt. Denn seine Frau, die Schauspielerin Olga Knipper, war dort geblieben. Nur besuchsweise kam sie nach Jalta; ihr in leuchtendem Rot gehaltenes Zimmer mutet wie ein Gästezimmer an und liegt im Erdgeschoss - der Schlafraum des Dichters jedoch im oberen Stockwerk, neben dem Arbeitszimmer.

Auf dem großen Schreibtisch liegt noch sein Stethoskop: Zu geschwächt, um in seinem Beruf als Arzt


Tschechows Arbeitszimmer
zu arbeiten, behandelte Tschechow dennoch ohne Bezahlung mittellose Kranke; viele seiner ergreifendsten Erzählungen sprechen von Armut, Siechtum, Elend und Gestank. Dabei ist er ein Dichter der Seele, einer jener Autoren, die die Erkenntnisse der modernen Psychologie vorweggenommen und dem Schweigen der Menschen eine Stimme gegeben haben, die die Pausen zwischen ihren Sätzen zu deuten wussten und verstanden, was sich hinter ihren Worten verbarg. In dem farbig glühenden Licht, das durch die bunte Verglasung des Arbeitszimmers fällt, hat Tschechow zwei seiner schönsten Theaterstücke geschrieben, "Die drei Schwestern" mit dem sehnsüchtigen Schrei: "Nach Moskau!" und "Der Kirschgarten", ein Stück des Abschieds und der Zeitenwende – und mehrere Erzählungen, darunter die traurige Liebesgeschichte "Die Dame mit dem Hündchen".

Zur Person: Anton Tschechow,  geb. 29.1.1860 in Taganrog, gest. 15.7.1904 in Badenweiler, beschrieb in mehr als 350 Prosaskizzen, Kurzgeschichten und Erzählungen die russische Gesellschaft seiner Zeit. Trotz seines lakonischen Stils gelingt ihm subtilste Darstellung seelischer Zustände und Stimmungen, auch in seinen bis heute auch in Deutschland viel gespielten Theaterstücken, u.a. "Drei Schwestern", "Onkel Wanja", "Der Kirschgarten" und "Die Möwe".

© Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007


...und zur Person unserer Autorin Dorothea Renckhoff:
Studium Theater- und Literaturwissenschaft u. Theorie des Films
Praktika an verschiedenen Theatern und als Kulturjournalistin, wissenschaftliche Veröffentlichungen.


1972 – 1974 Assistentin für Regie und Dramaturgie Schauspielhaus Bochum bei Peter Zadek. Arbeit mit Tankred Dorst, Mike Weller, Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder u. a.
1974 – 1976 Dramaturgin Freie Volksbühne Berlin. Arbeit mit Kurt Hübner, Helmut Käutner, Peter Zadek u. a.
1976 – 1978 freie Arbeit als Theaterübersetzerin und Dramaturgin,  außerdem Regieassistentin u. Autorin für das Fernsehen des WDR
1978 – 1983 leitende Dramaturgin Rheinisches Landestheater Neuss und Theater am Niederrhein Kleve. Arbeit mit Wolfram Mehring, Johannes Reben, Hans Magnus Enzensberger u. a.
1983 – 1989 Chefdramaturgin Städtische Bühnen Münster. Arbeit mit Barbara Honigmann, Harald Mueller,  Lisa Witasek, Minoru Miki u. a.
1989 Beendigung der Theaterkarriere, da  eine führende Position am Theater mit den familiären Anforderungen (zwei Kinder) nicht mehr vereinbar war.
Seitdem freischaffend in Köln als Autorin und literarische Übersetzerin.

Veröffentlichungen:
Hörspiele: Das Luftspringerkind (WDR Köln 1995)  Das Haus am Kanal  (WDR Köln 1997)
Bühnenwerke:
Das klingende Haus. Theaterstück 1998, Uraufführung 15. 11. 2001 Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Klassik für jedes Wetter. Schiller und Goethe live auf Wetwork. Theaterstück 1999
Glanz und Verdunkelung. Frische Blumen für Straus. Theaterstück 2002
Der gläserne Birnbaum oder Milstein wartet auf mich. Theaterstück 2004
Der blaue Vogel. Oper in fünf Akten. Musik von Harald Banter, 1999 (Textbuch und Klavierauszug)
Uraufführung 4.9.1999, Theater Hagen

Übersetzung von mehr als zwanzig Theaterstücken u. Fernsehspielen (u. a. von Eduardo de Filippo, Alan Ayckbourn, Stephen Poliakoff, Brian Phelan, Ben Travers, Wallace Shawn, Serge Kribus u. v. a.) für diverse Theaterverlage (Gerhard Pegler, Gustav Kiepenheuer, Felix Bloch Erben, Rowohlt u. a.), die erfolgreichste (Shakespeare’s Sämtliche Werke – leicht gekürzt) wurde an weit über fünfzig deutschsprachigen Theatern gespielt

Fernsehbearbeitungen: Otto der Treue (WDR 1976), Der müde Theodor (WDR 1977), Der doppelte Moritz (WDR 1977), Das Schloßgespenst (WDR 1980)
Vorträge (z. B. über die Problematik der Theaterübersetzung, Goethe House New York, 1991,  Und die Seele ging weinend über die Sümpfe davon, Siegfried Wagner und das Erlebnis Oscar Wilde, 1. internationales Siegfried-Wagner-Symposion Köln 2001)

Kulturjournalistische Arbeiten
Umfangreiche Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften, CD-Booklets, Theater- und Konzertprogrammheften, Festschriften u.v.a. (z. B. Leben mit Literatur, Artikelserie im Kölner Stadt-Anzeiger, 1991 – 1993; Hoffmanns Erzählungen – live. In: Realitäten und Visionen. Hilmar Hoffmann zu ehren. Hrsg. V. Peter Wapnewski unter Mitarbeit von Christoph Mücher. DuMont Buchverlag Köln 2000. Zahlreiche Arbeiten zu Oscar Straus in verschiedenen Medien)

Bücher:
- Willy Millowitsch. Lebensbilder – Theaterbilder. (Biographie). Köln 1996
- Vergiftet. Kriminalnovelle. Neuss 2000

Redaktion: Frank Becker