Schlafen

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Schlafen

Sagen Sie mal: Schlafen Sie auch so gerne lang? Also früher, da konnte ich schlafen bis Gott weiß wohin, da mußte man mich nach drei Tagen beinahe mit dem Brecheisen aus dem Schlaf heraushebeln. Das ist jetzt natürlich übertrieben, aber ich wollte nur mal bildlich darstellen, wie ich früher alles mögliche zusammen- geschlafen habe, ganz schlimm. Aber da war man ja noch jung und schön. Also schön weiß ich nicht, aber immerhin, das Schönsein hält ja auch nicht ewig. Ich schlafe auch heute noch gerne lang, wenn es geht. Aber meistens werde ich schon um 7 Uhr wach, auch wenn ich bis 11 schlafen könnte. Egal ob ich um 2 ins Bett gehe oder schon um 10. Aber lange schlafen tue ich immer noch gern, aber wenn es sein muß, stehe ich auch um 5 auf und bin sofort fidel, sofort. Also ich gehöre nicht zu denen, die erst um 9 das erste Lächeln zeigen, nein, ich bin sofort mit beiden Beinen, steh ich also auf dem Boden der Tatsachen und lasse die Zigarre vor Bitterkeit nicht ausgehen, obwohl ich inzwischen Nichtraucher bin und deshalb viel zugenommen habe, und das gefällt meiner Frau gar nicht, die übrigens auch gern lange schläft und es auch noch kann, wenn es geht. Sie muß nämlich meistens um halb 7 aufstehen. Schläft aber bis eine Minute vor halb, also: »Bis daß der Wecker klingelt«, wie der Pfarrer bei der Hochzeit sagt, und dann ist sie immer baß erstaunt, daß ich schon wach bin, und fast empört, wie soll ich sagen, also unangenehm überrascht, daß ich schon seit 5 wach bin, wach liege. Das kann sie einfach nicht verstehen und sagt dann immer: »Ich habe doch den Wecker gestellt.« »Und wenn man schläft, dann schläft man«, sagt sie immer. Wirklich! »Wenn man schläft, dann schläft man«, sagt sie. Ich sage: »Das sagst du, aber warte nur die Zeit ab, du kommt auch noch dran, dann stehst du, wie ich dich kenne, gleich auf und machst dich an die Arbeit.« Manchmal werde ich auch schon um 4 wach, gucke auf die Uhr und freue mich, denn ich kann mich dann noch mal rumdrehen und fünf Stunden weiterschlafen. Aber dieses Glücksgefühl hätte ich gar nicht erlebt, wenn ich nicht um 4 wach geworden wäre. Mein Vater auch. Ab 5 Uhr morgens konnte der nicht mehr schlafen. Also stand er auf, machte einen Spaziergang oder ging im Sommer ins Freibad und dann um halb 8 ins Büro. Das habe ich damals nie verstanden. Und heute geht es mir ganz genauso. »Nur«, sagt meine Frau dann, »daß du keinen Spaziergang machst, geschweige denn ins Freibad gehst, sondern wach liegen- bleibst.« »Ja«, sage ich, »weil ich hoffe, weil ich ernsthaft hoffe, vielleicht noch mal einschlafen zu können. Man darf die Hoffnung nie aufgeben.« »Ernsthaft hoffe«, sagt dann meine Frau, »daß ich nicht lache, wenn man bis 7 Uhr schlafen kann und dazu noch den Wecker stellt, kann man auch bis 7 schlafen.« »Eben nicht«, sage ich dann, »denn ich muß ja schon ab 5 nachdenken, und wenn ich viel nachdenken muß, dann schon ab 4.« »Über was mußt du denn nachdenken?« »Na über alles mögliche.« »Das kannst du doch ab 7.« »Nein«, sage ich, »dann fängt ja das Leben schon an.« Ich sage ja gern: »Je älter man wird, desto früher fängt das Leben an.« Neulich ist meine Frau tatsächlich zum erstenmal früher wach geworden, als sie eigentlich wollte, und zwar, weil sie plötzlich auch über alles mögliche nachdenken mußte. Und jetzt versteht sie, daß ich auch ohne Wecker wach werde.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung