Eine Erinnerung an Silvia Schlenstedt (1931-2011)

Die Literaturwissenschaftlerin starb bereits im März in Berlin

von Dirk Krüger

Silvia Schlenstedt - Foto: Dirk Krüger
Erinnerung an Silvia Schlenstedt
 
Erst jetzt erreichte uns die Nachricht, daß die am 10. April 1931 in Wuppertal-Barmen geborene Literaturwissenschaftlerin Silvia Schlenstedt bereits am 16. März 2011 in Berlin gestorben ist.
 
Was wissen wir über diese Frau, die in Wuppertal geboren wurde und warum sollten wir uns an sie erinnern?
Nach Emigration (1933-1950) mit ihren jüdischen Eltern und ihrer Rückkehr nach Deutschland 1946 ging die Familie 1950 in die DDR. Dort absolvierte Silvia Schlenstedt ein Germanistikstudium und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität, wo sie mit einer Arbeit über die „Svendborger Gedichte“ von Bertolt Brecht promoviert wurde.
Ab 1968 arbeitete sie am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und wurde 1982 zur Professorin für neuere deutsche Literatur habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte waren: Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere Expressionismus, Exilliteratur und deutsch-jüdische Literatur. Ihr nationales und internationales Renommee verdankt sie zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen, die sie in fast allen Ländern Europas gehalten hat. Es würde den Rahmen sprengen, wenn man alle ihre Publikationen hier aufzählen würde. Für Wuppertal ist interessant und wichtig, daß sie 1988 im Leipziger Reclam Verlag das Buch „Else Lasker-Schüler: Gedichte, Prosa, Briefe, Dokumente“ herausgegeben und hier an der Bergischen Universität über die Lyrik Else Lasker-Schülers gesprochen hat, wobei sie interessante und überraschende Interpretationen wichtiger Gedichte präsentierte.
 
Ihr Vater, Dr. phil. Walther Pollatschek, wurde am 10. September 1901 in Neu-Isenburg geboren. Er arbeitete nach seinem Studium in Wuppertal als Feuilleton-Redakteur und Theaterkritiker. Er war Jude und Antifaschist. Deswegen wurde er 1933 entlassen. Er ging mit der Familie nach Berlin und wurde bei einem erneuten Besuch in Wuppertal verhaftet. Nach seiner durch glückliche Zufälle bedingten Entlassung verließ er Deutschland und emigrierte zunächst nach Spanien, dann nach Frankreich und schließlich in die Schweiz. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde in Frankfurt am Main Kulturpolitiker und Schauspielkritiker der „Frankfurter Rundschau“. 1950 ging er in die DDR. Er starb am 28. Februar 1975. In seinem Kinderbuch „Drei Kinder kommen durch die Welt“ schildert er die Exilstationen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für seine Kinder. Im ersten Kapitel beschreibt er die Zeit in Wuppertal und erklärt dabei sehr ausführlich und anschaulich die Einmaligkeit der Schwebebahn.
 
Seine älteste Tochter, Doris Pollatschek, wurde am 14. Februar 1928 ebenfalls in Wuppertal-Barmen geboren. Sie studierte von 1950 bis 1956 an der Kunsthochschule Dresden Bildhauerei. Nach Schwierigkeiten mit den DDR-Kulturbehörden gelang ihr 1981 die Flucht. Nach zahlreichen Umzügen nahm sie ihren Wohnsitz in Jerusalem. Sie begann mit Keramik zu arbeiten. 1995 wurde ihr eine große Ausstellung in der Begegnungsstätte Alte Synagoge hier in Wuppertal gewidmet, die sie auch besuchte. Sie starb am 13. März 2002. Die dritte Tochter, Konstanze, wurde in Fréjus im Süden Frankreichs geboren. Über sie ist nichts
bekannt.
 
Ich schließe mit einer persönlichen Bemerkung: Ich hatte zahlreiche Begegnungen mit Silvia Schlenstedt, auf Tagungen, Konferenzen, in ihrer von Büchern überquellenden Wohnung in der Seelenbinderstraße 21. Sie war eine faszinierende Persönlichkeit und eine großartige Wissenschaftlerin. Ihr Tod reißt eine große Lücke vor allem in die Forschungen zur Exilliteratur, der auch ich besonders verpflichtet bin. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf das einzige deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch zum Spanischen Bürgerkrieg, auf das Buch „Vier spanische Jungen“ der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald, das Ausgangspunkt wurde für den wissenschaftlichen Blick auf die Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren im Exil 1933-1945 und für meine entsprechende Dissertation und Promotion bei Professor Thomas Koebner an der Bergischen Universität Wuppertal.


Redaktion: Frank Becker