Fundsache

von Ulrich Land

Foto © Frank Becker
Fundsache
 
 
Na ja, ich bitte Sie! Fahren Sie mal jeden Tag – Wochen, Monate, Jahre, ein halbes Leben, jeden Tag – immer die gleiche Strecke. Gut, da gibt's jetzt bei der Schwebebahn nicht viel Auswahl. Wupper rauf Wupper runter. Jedenfalls wär Ihnen auch anders geworden. Ganz anders.
 
Es war: Wupper runter. Wie jeden Tag um die Zeit – und plötzlich – plötzlich ist alles anders! Dieser Handschuh. Der mußte einem einfach ins Auge springen. Leuchtend weiß, wie er war. Aber keiner außer mir schien diese Kirschblüte im Ständerwerk bemerkt zu haben. Hoch droben – ich meine, von der Schwebebahn aus natürlich: unten – hoch im Gestängegestakse. Irgendwie anrührend. Hätte Sie auch mitgenommen, der einsame Handschuh. Wie er sich da mit flachen Fingern festklammerte. Mit dreien seiner Finger. Daumen und Zeigefinger hingen schlaff faltig herab und beteiligten sich nicht an der Mühe, diese halsbrecherische Position zu wahren. Wenn's nach ihnen gegangen wär, wäre die Reise abwärts in die Wupper einfach fortgesetzt worden. Wurde sie aber nicht. Die drei andern Kollegen Handschuhfinger hatten das Gestänge gut im Griff. Diese irrsinnige, tagelang, wochenlang anhaltende Anstrengung dieser drei verlorenen Handschuhfinger, das war's, was mich so schwermütig stimmte.
 
Von nun an wurde ich jeden Tag, an dem ich da vorbeiruckelte, magisch angezogen von diesem flügellahmen weißen Schmetterling da oben und seinem Geheimnis. Stand für mich außer Frage, daß das jungfräuliche Stück einer jungen Dame gehörte. Nein, ich kenne sie nicht. Sie kämmt ihr goldenes Haar, sie kämmt es mit goldenem Kamme und singt ein Lied dabei, das hat eine wundersame, gewaltige Melodei. Ausgeschlossen, daß die bildschöne Besitzerin ihren Handschuh so hoch hätte hinauf werfen können. Bei diesen schmalen Fingern, dieser zierlichen Statur, diesem eleganten Mantel. Und wozu auch? Wozu hätte sie das Ding da rauf katapultieren, das Frieren der einen Hand in Kauf nehmen sollen!
 
Und es war hier auch weit und breit kein Haus, aus dessen Fenster jemand dieses flatterhafte Corpus Delicti hätte pfeffern können. Irgendwann nach Tagen und Tagen des Vorbeifahrens einigte ich mich mit mir – nein nein, nicht weil ich davon total überzeugt gewesen wäre, sondern damit ich diese bohrende Frage loswurde, mich freischwimmen konnte aus dem Strudel dieser klaffenden Erklärungslücke – einigte ich mich mit mir darauf, daß diese weiße Fünffingermöwe direkt aus der Schwebebahn zum Sinkflug angesetzt haben mußte. Der Schönen in der Schwebe aus der Handtasche gefallen. Oder aus der Manteltasche. Auf dem Boden von unachtsamen Füßen hin- und hergeschoben und schließlich durch die Gummilippen der Wagentür gequetscht – aus den Augen aus dem Sinn.
 
Stimmt, Sie haben recht. Dann hätte der Handschuh nicht in diesem Gestänge landen können, bei dem Winkel, mit dem sich die Ständer schräg unter der Schwebebahn zum Flußufer spreizen, da hätte er nur schnurstracks bei den Fischen landen können. Also muß ihn irgendein jugendlicher Übeltäter der Goldblonden stibitzt und mit kraftvollem Schwung aus dem Handgelenk durch einen der Klappfensterschlitze der Schwebebahn geworfen haben. Ja. So war's.
 
Die Frage nach dem Wer, nach dem Namen des armen Opfers interessierte mich nicht im Entferntesten. Mitnichten. Ich hatte sie ohnedies genau vor Augen. Nein, die Frage, die mir jetzt nach der Klärung des Entwendungsdeliktes das Hirn zermarterte, war die, wie sich das Drama weiter gestalten würde. Der traurige Anblick würde sich ja nicht einfach so aufheitern. Im Gegenteil. Jeden Tag, den das schneeweiße Geschöpf in seinem kalten Gestänge Wind und Wetter ausgesetzt war, bedeutete beträchtliche Einbußen an jungfräulicher Reinheit. Wurde Tag für Tag unansehnlicher. Schon nach kurzer Zeit hatte es den Charakter schmuddliger Novembermontagnachmittage angenommen. Fahlgelb, dreckig. Tat einem in der Seele weh.
Es mußte gehandelt werden. Das werden Sie als Hüter von Recht und Ordnung verstehn!
 
Ich gab der unglücklichen Schönen noch fünf Tage, den verlustig gegangenen Handschuh aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Als sie auch diese Frist trauernd womöglich, doch tatenlos verstreichen ließ, war meine Stunde gekommen. Nachts um zwei. Ja, sicher. Und zwar nicht weil ich wie ein Strauchdieb die Dunkelheit gesucht hätte, sondern um Störungen des Schwebebahnbetriebsablaufes einerseits und meines höchste Konzentration erfordernden Unterfangens andererseits vorzubauen. Ich meine, immerhin galt es, die staksigen Ständer in stockfinstrer Nacht aufzuentern.
Stirnlampe und Klettersteigausrüstung hatte ich mir beim Alpenverein Sektion Unterbarmen Nordwest ausgeliehen. Aber womit ich nicht gerechnet hatte, daß die Füße sich bei jedem Schritt in den gekreuzten Streben verkanteten. Stechender Schmerz. Können Sie mir glauben, und ich bin nicht grade zimperlich. Aber immerhin, auf meine Hände konnte ich mich verlassen. Klammerten sich so fest um die schräggestellten Streben wie die Finger dieses ehedem so hübschen, gottverlassenen Handschuhs, den ich jetzt – fehlten noch zwölf, sieben, drei Zentimeter – den ich jetzt in Händen hielt! Endlich in Händen hielt.
 
Und jetzt runter damit und rein damit in die Jackeninnentasche, daß das arm weiß Vögelein mit dem einen, dem gefingerten Flügel sofort ins Trockene kommt! Raus aus dem Schmuddel.
Ja nein, wußte ich natürlich nicht, nicht zu dem Zeitpunkt, wohin mit dem geborgenen Schatz, wenn ich erst mal zu Hause angelangt sein würde. Jetzt, verdammt, hatte ich erst mal hier runter zu kommen. Ohne mir Nacken und Knochen zu brechen. Bei dem Herzrasen! Das weniger der Angst vorm Abstieg geschuldet war als vielmehr dem Schatz, den ich am Herzen trug und der mir einen Kreislauftaumel nach dem andern durch die Gefäße jagte.
 
Ich kam jedenfalls heil zu Hause an und auch das Objekt, das jetzt unter meinem Schutz, unter meinem persönlichen Schutz stand. Wie weggeblasen das Problem: wohin damit. Ich räumte ein Regalbrett hinter den Glastüren des von alten Küchenschrank meiner Großtante frei und gewährte dem Kleinod auf diese Weise einen staub- und feuchtigkeitssicheren, wiewohl stets einsehbaren Ehrenplatz.
Ich war glücklich. Überglücklich.
Zusätzlich beseelt von dem Gedanken – das ist auch der Grund, weshalb ich von da an nicht mehr nur zur Arbeit und wieder nach Haus fuhr, sondern auch etliche Stunden meiner durchaus knapp bemessenen Freizeit im ratternden Schwebezustand verbrachte, weshalb ich nicht selten bis Fahrplanende zwischen Oberbarmen und Vohwinkel hin- und herpendelte – zusätzlich beseelt also von der Hoffnung, eines Tages die traumschöne Goldblonde mit der zierlichen Figur unter elegantem Mantel zu treffen! Würde ich sie doch ohne jede Frage sofort an ihrem unruhigen Blick erkennen, mit dem sie die Bänke und den Boden des Schwebebahnwagens abtasten mochte auf der Suchen nach der verlorenen Preziose.
 
Aber sie kommt nicht, sucht nicht, fährt nicht Schwebebahn. Vermutlich will sie den zweiten Handschuh nicht auch noch verlieren.
Auch mein Gang zum Fundbüro trug keine Früchte. Erstens hat keine Dame einen weißen Handschuh vermißt gemeldet, und wenn, dann würde man mir zweitens aus Datenschutzgründen keinesfalls die Personalien zur Kenntnis geben.
 
Ja nun, ich meine, ist ja doch sonnenklar, daß mir irgendwann etwas fehlen mußte. Setzen Sie sich mal in die Schwebebahn und fahren 15 mal pro Tag rauf und runter, hin und her, kreuz und quer und nirgends, absolut nirgends hängt ein weißer Frauenhandschuh im Gestänge! Da wird man schier verrückt! Kriegt's mit der Angst zu tun. Der Horror ausgekochter Inhaltsleere. Das ist wie ein Nichts im Nichts. Ein schwarzes Loch in der Leere der Überfülle. Das ist, als würde man die ganze Zeit bloß nach der Bestätigung dafür suchen, daß einfach nichts da ist, daß in dem ganzen vorbeischwebenden Spektakel nichts ist, was einen aufmerken läßt.
Logisch, daß ich da noch mal rauf bin. Wieder zu nachtschlafender Zeit. Den trostlosen Handschuh wieder dahin hängen wollte. Mußte. Exakt gleiche Stütze, exakt gleiche Höhe, exakt gleiches Strebenkreuz. Aber, versteht sich, frisch gereinigt, jungfräulich weiß.
 
So. Und jetzt kommen Sie mir nicht und sagen, ich sei vermutlich schon bei den Vorbereitungen der Expedition weniger umsichtig gewesen als bei der Erstbesteigung. Sie und kein anderer trägt die volle Verantwortung dafür, daß mich der Ihrerseits ausgelöste Martinshornschock auf Sturzflug in die flachen Fluten der Wupper schickte und der Handschuh nicht wieder dort oben sitzt und tiriliert. Seine gewaltige Melodei.



© Ulrich Land - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker