Schulhausroman – was heißt das?

Erfahrungsbericht über literarisches Schreiben mit Schülern

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Schulhausroman –
was heißt das?
 
Erfahrungsbericht über literarisches
Schreiben mit Schülern
 
 
Seit mehreren Jahren arbeite ich in Nordrhein-Westfalen im Rahmen ihres Deutschunterrichts literarisch mit Schülern verschiedenen Alters und unterschiedlicher Schultypen. Aufgabe ist es, gemeinsam eine Geschichte zu schreiben, den sogenannten Schulhausroman. Am Ende wird das Manuskript gedruckt und gelangt, schön gestaltet, in den Buchhandel.
 
Aus meiner Hand kommen bisher vier Erzähltexte mit Schülern zusammen: Die schwarze Schachtel (2007), Saskia leuchtet (2009), Wir machen den Pott voll (2010) und zuletzt, 2011, Ein Schuß Jugendliebe: Diesmal war es eine neunte Klasse der Realschule Neue Friedrichstraße in Wuppertal.
 
 
I.
 
Mein Gepäck war leicht, mit dem ich zum ersten Mal vor der Schulklasse stand, zu ungewöhnlich früher Stunde (für mich, nicht für sie). Es war ein verregneter Herbsttag. Vor mir saßen achtundzwanzig Schülerinnen und Schüler einer siebten Klasse, zwölf und dreizehn Jahre alt. Kinder, keine Jugendlichen. Gemeinsam wollten wir auf die Reise gehen, einen kleinen Roman zu erfinden und niederzuschreiben. Das Gepäck bestand aus einem handgroßen Zettel. Seine wenigen Zeilen schrieb ich an die Tafel.
 
„Es war noch früh am Morgen, und es regnete ein bißchen. Mit großen Schritten ging eine Frau mittleren Alters auf die Eingangstür einer Schule zu. Sie hatte es eilig. Ihre Haare waren leicht rot getönt. Innen auf der Treppe kam ihr ein Junge entgegen. Auffällig an ihm waren seine großen dunklen Augen. Zwölf Jahre war er vielleicht.“
 
So könnte unser Roman beginnen, schlug ich vor.
 
Rascher und direkter, als ich es mir vorher ausgemalt hatte, griffen die Schüler zu. Sie fingen gleich an zu fabulieren, was es mit dem Jungen auf sich haben könnte (die Erwachsene, in der die uns begleitende Deutschlehrerin Jutta S. kaum zu verkennen war, interessierte sie nicht). Nicht alle, aber weitaus die meisten Kinder plauderten drauflos, frisch von der Leber. Da es keine Zensuren darauf gab – wie soll man Phantasie benoten? – hatten sie nichts zu verlieren. Wir alle konnten nur gewinnen. (Auch die Lehrer. Oft erzählten sie mir hinterher, daß die originellsten Ideen von Schülern kamen, die im normalen Unterricht sonst eher als Mauerblümchen am Rande blühten.)
 
Als sich genug Erzählstoff angesammelt hatte, bat ich die Jungen und Mädchen, ihre Version der Geschichte aufzuschreiben, einzeln oder in kleinen Gruppen.
 
Zuhause auf dem Schreibtisch lag dann ein Packen von mehr als fünfundzwanzig Blättern vor mir, in DIN A 4-Format, mit Füller beschrieben, in einer erfreulich lesbaren Schrift. Auf einem Blatt ertranken fünf Zeilen, andere Schüler schrieben es voll, zwei oder drei brauchten ein zweites.
 
Die Lektüre machte mir Spaß. Was diesen Kindern alles im Kopf saß an überraschenden Einfällen! Ich las ihre Texte gründlich, mehrmals. Wie empfindlich und fein, wie frech auch und witzig sie auf ihre Umgebung eingingen – Schule, Elternhaus, Freunde, Freizeit. Nicht leicht, daraus den Faden einer einzigen Fortsetzung zu knüpfen. So manche schöne Idee, um die es wirklich schade war, konnte ich nicht unterbringen. Ich mußte mich entscheiden, wo ich die größten Entwicklungsmöglichkeiten für unsere Geschichte sah. Wie sie sich entwickeln, gar wo sie enden würde – das wußte ich so wenig wie die Schüler.
 
Meine Arbeit war es nun, aus den fünfundzwanzig unterschiedlichen Niederschriften am Schreibtisch die jeweilige Fortsetzung zu bauen. Das schwierigste war, den vielen Erzählversionen eine einheitliche sprachliche Fassung zu geben. Das hat mich wesentlich stärker gefordert, als eine eigene Geschichte zu schreiben.
 
Die neue Fortsetzung wurde der Klasse auf Fotokopien ausgeteilt, und die Schülerinnen und Schüler lasen sie zu Beginn der nächsten Sitzung laut vor. Jede Schülerin und jeder Schüler hatte also immer den Stand der Geschichte sowohl vor Augen wie im Ohr. Nach dem Verlesen unterhielten wir uns zusammen darüber, wie die Handlung weitergehen könnte. Im zweiten Teil der Doppelstunde schrieb jede/r die eigene Wunschfassung nieder.
 
 
II.
 
Da sitzt er dann, der Schriftsteller, mit fünfundzwanzig unterschiedlichen Fortsetzungen, aus der eine einzige werden soll. Es holt ihn die Einsamkeit des Schreibtischs wieder ein.
 
Da ist die Verantwortung gegenüber einer Geschichte. Denn das Projekt heißt ja nicht „Literarisches Schreiben an der Schule“. Es heißt ausdrücklich: Die Schüler sollen einen Roman erzählen, etwas bescheidener ausgedrückt: eine Geschichte. Eine gute Geschichte muß aussehen, als erzähle sie sich von selbst. Aber das tut sie leider nicht. Man muß gehörig nachhelfen. Da sind bestimmte Regeln einzuhalten: Die Geschichte braucht einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende. Es ist ein Bogen zu spannen, der die berechtigten Erwartungen eines Lesers erfüllt. Personen sind aufzubauen und zu führen – mit Phantasie genauso wie nach den Regeln der Logik. Die Worte einer Erzählung sind nicht endlos geduldig. Einmal gesetzt, verlangen sie Folgerichtigkeit. Das Vertrauen, das der Leser dem Erzähler gratis einräumt, sollte gedeckt sein, vom Ende aus. Das hat der Schriftsteller im Kopf, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt und die Blätter der Schüler liest, immer wieder. Das alles muß aufgehen. Das alles muß auf ein Ende hinführen.
 
Und Geschichten werden aus Worten gemacht, aus Sprache. Auch der Sprache gegenüber hat der Schriftsteller eine Verantwortung, eine besondere sogar – als seinem Handwerksgerät und Material. Er – wer sonst? – hat dafür zu sorgen, daß die Worte für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft – für alle – verständlich bleiben, und das über den heutigen Tag hinaus. Möglichst noch in zehn und zwanzig Jahren und mehr. Jargon und Modewörter, so sehr sie zur sprachlichen Lebendigkeit beitragen, wollen klug eingesetzt sein – der Schriftsteller denkt auch daran, daß die Schüler ihr Werk ja vielleicht der Großmutter zum Lesen geben möchten, oder ihren eigenen Kindern, gar Enkeln, eines fernen Tages: Schau, das habe ich geschrieben, als ich fünfzehn war, mit meiner Klasse. Willst du’s mal lesen? Ob diese Kinder des Jahres 2030 oder 2050 noch wissen werden, was ihr Vater, Großvater damals, anno 2010, mit „chillen“ meinte?
 
Der Schriftsteller hat seinem Metier gegenüber besondere Verantwortungen, und die lassen sich nicht abgeben, wenn er eine Schule betritt, um junge Menschen zum Erzählen zu verlocken. Gerade in dieser Situation. Weil er die Schülerinnen und Schüler ernst nimmt als junge Kollegen auf Zeit.
 
Leicht ist diese Aufgabe nicht. Eine große Herausforderung.
Und immer eine Freude, voller Überraschungen.
 
Da fragte ich eine Schülerin, in der meines Erachtens wirklich Talent zum Erzählen schlummert, ob sie schon mal daran gedacht habe, Schriftstellerin zu werden.
Ja, gab sie mir zur Antwort. Früher mal.
Früher mal. Ein großes Wort für eine Fünfzehnjährige.
 
Vielleicht überlegt sie es sich jetzt doch noch anders. Später mal.
 
 
 
Redaktion: Frank Becker