Luther, Müntzer und die DDR für Anfänger

Alexander Fleischauer - "Die Enkel fechten’s besser aus"

von Matthias Dohmen
Luther, Müntzer und die DDR für Anfänger
 
Ein unglaublich materialreiches Werk ist vorzustellen. Wer sich für die Bauernkriege, Thomas Müntzer oder Martin Luther und die Reformation interessiert und wissen will, wie die DDR-Historiker versuchten, die genannten Personen und Ereignisse in die Traditionslinie des zweiten und untergegangenen deutschen Staates hineinzuzwängen, ist mit Alexander Fleischauers Dissertation von 2009 sehr gut bedient. Die Geschichtspolitik der SED und ihrer Blockparteien sowie die Haltung der evangelischen Kirchen der DDR werden ebenso akribisch nachgezeichnet, wie Filme und Romane zu den erwähnten historischen Themen vorgestellt werden.
Den Bürgern der DDR galt es, vor Augen zu führen, daß ihr Staat das „natürliche, ja das zwangsläufige Ergebnis von historischen Prozessen in der deutschen Geschichte war“, wie Fleischauer auf S. 18 konstatiert. Doch es war mehr als Selbstlegitimation: „Im Grunde wurde über die gesamte Zeit der deutschen Teilung hinweg ein Kampf um das Gedächtnis zwischen den beiden deutschen Staaten ausgetragen“ (ebda.).
 
Der Autor sieht zwei Phasen der so genannten Geschichtspolitik östlich der Elbe: die Zeit vor und die Zeit nach dem Bau der Mauer. Bis 1961 pries sich die DDR als das bessere Deutschland in einer gemeinsamen Nation, nach der Zäsur suchte man auf breiter Basis das politische, philosophische und kulturelle „Erbe“ teilweise sogar in Abgrenzung zur Sowjetunion aufzuarbeiten.
Breiten Raum nimmt die Darstellung der Politik der Ost-CDU ein, die sich als Vertreterin der Christen zu profilieren hatte. Ihr langjähriger Vorsitzender Gerald Götting zitierte in einer Broschüre „Martin Luther und wir“ ausgiebig Erich Honecker, dessen Rede mit der „Hochschätzung Luthers“ und der „Pflege der humanistischen Traditionen“ eine Richtung vorgegeben habe, in der „alle gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes prinzipiell übereinstimmen und fruchtbar zusammenarbeiten“. Der große Reformator wird auch noch für die Legitimierung der Nationalen Volksarmee in Beschlag genommen: Die Christen seien Teil der „politisch-moralischen Einheit“ des „Volkes der DDR“ und fühlten sich dem Frieden verpflichtet, den sie selbstverständlich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit seien (S. 254 f.).
 
Ausgesprochen störend sind die Begrifflichkeiten, mit denen Fleischauer um sich wirft. So unterstellt er der Arbeiterbewegung wechselweise eine „Misere-Theorie“ und eine „Zwei-Linien-Theorie“ (vor allem S. 65 ff.). Wenig überzeugend sind auch Termini wie „zwecknationale Geschichtsbetrachtung“ (S. 88) und „welthistorisch-dialektische Interpretation“ (S. 137 f.). Ob darüber hinaus mit dem Jahr 1990 quasi weltweit jegliche marxistische Geschichtsschreibung untergegangen ist, die es bekanntlich auch vor 1949 gab, darf doch bezweifelt werden.
Dem Müntzer-Film von 1956 ist dankenswerterweise ein eigenes Kapitel gewidmet. Friedrich Wolf mußte sich parteiamtlich den Vorwurf machen lassen, es würde „zu viel aus der Bibel“ zitiert. Überhaupt war das dargebotene Bild den staatlichen Stellen zu differenziert: „Die künstlerische Betonung liegt auf Opfer und nicht auf Kampf, auf Verrat und nicht auf Treue“, kurz „die Bauern hätten besser daran getan, nicht zu kämpfen“ (S. 112 bis 114).
 
Als am 20. Dezember 1989 der Staatsakt zu Ehren Müntzers über die Bühne der Deutschen Staatsoper ging, waren viele Mitglieder des pompös eingesetzten Jubiläumskomitees schon gar nicht mehr in Amt und Würden – die Situation glich einer Beerdigung, das „Neue Deutschland“, gewohnt, Reden von Festveranstaltungen groß herauszubringen, begnügte sich mit einer kleinen „geradezu mickrigen“ Meldung. Der Hauptredner, Kulturminister Dr. Dietmar Keller, versuchte noch, einen Bogen von Luther und Münzer bis zur „revolutionären Volksbewegung unserer Tage“ zu schlagen (S. 299 bis 302). Vergeblich. Die übliche Broschüre zur Festveranstaltung mit Kellers Rede ist nie erschienen.

Beispielbild

Alexander Fleischauer
Die Enkel fechten’s besser aus
 
Thomas Müntzer und die frühbürgerliche Revolution – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR
 
© 2010 Münster: Aschendorff
400 Seiten, kartoniert, 28. Abb.
29,- €
 
Weitere Informationen unter: