Jaques Tati in Sainte Sévère

Ein atmosphärischer Reisebericht

von Jörg Aufenanger
Foto © Jörg Aufenanger
Jacques Tati in Sainte Sévère

Mr. Bean hat kürzlich Ferien in Frankreich verbracht und wir lachen im Kino über seine Eskapaden. Monsieur Hulot hat fünfzig Jahre zuvor Ferien an der bretonischen Küste gemacht und seine unfreiwillig komischen Leinwand- Abenteuer erheitern uns heute noch. Doch Jacques Tati, immer zugleich Hauptdarsteller und Regisseur, hat vor den „Ferien des Monsieur Hulot“ und vor „Mein Onkel“ seinen ersten Film in einem winzigen Dorf im grünen Herzen Frankreichs gedreht, „Jour de Fete“, auf deutsch „Tatis Schützenfest“, Kult in der Filmgeschichte.

Ein Traktor mit einem Wagen voller Karussellpferde im Schlepptau fährt über kurvenreiche, leicht ab- und letztlich ansteigende pappelgesäumte Straßen in Sainte Sévère ein. Ein Junge springt aus einem Haus, hüpft hinterher. Heute ist dieser Junge siebzig Jahre alt und erzählt mit feuchten Augen vom

Foto © Jörg Aufenanger
Ereignis seines Lebens, Jean Renaud. Er sitzt neben uns in der hölzernen Markthalle des Dorfes auf einer schmalen Bank, silbergraue Haare, ein mächtiger Bauch, aber mit einem schmunzelnden Kindergesicht zeigt er Photos von den Dreharbeiten im Jahr 1947. Der Krieg war gerade vorüber, das Dorf litt Hunger, konnte sich aber wenn auch karg selbst versorgen. Tati hatte sich während der deutschen Besatzung in der Nähe versteckt, antwortet Jean auf die Frage, warum der nach Sainte Sévère gekommen war. Ein Bauer hatte ihm Zuflucht gegeben, denn Tati wollte nicht zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt werden. Er hat sich mit dem Film bei uns dafür bedankt, erklärt Jean Renaud.

Wir waren von Paris aus Richtung Süden über Orléans nach Chateauroux, die Provinzhauptstadt des Berry, gekommen, hatten einen Halt in Nohant gemacht, um das Anwesen der Dichterin George Sand, die hier mit Chopin gelebt und Heine empfangen hatte, aufzusuchen. Welch eine Stille umfing uns schon dort in diesem sattgrünen Land, dem Herzen Frankreichs, das die Sand in so vielen Romanen verewigt hat. Wir tauchten noch tiefer in dieses France Profonde ein, als wir die schmale Chaussee nach Sainte Sévère gefunden hatten. Kein Auto weit und breit, kein Mensch, allein Wiesen, Laubwälder und Bachauen säumten den Weg. Im wahrsten Sinne dessen Wortes Landschaft, wie gerade erst von Gott erschaffen, umfing uns. Schließlich bogen wir wie jener Wagen mit dem Karussell von der selben, heute noch gut erkennbaren Straße, in das Dorf ein.

Neben Jean Renaud erwarten uns noch zwei weitere alte Herren und eine Dame, um vom Damals zu

Foto © Jörg Aufenanger
erzählen. Zuerst zeigen sie uns das Dorf. Neben der Markthalle steht ein hölzerner Kirmeswagen als Requisit aus dem Film, in dem heute das Verkehrsamt auf Touristen wartet. Sie führen uns zum Schuhmacher und dem benachbarten Metzger, dem Tati im Film Schuhe unter das Fleischermesser wirft. Wir durchqueren einen tausend Jahre alten Torbogen, passieren einen Ziehbrunnen, der Tati natürlich für einen Gag herhalten musste, klettern einen steilen Weg hoch, blicken ins weite hügelige Land, wo nichts das natursüchtige Auge stört, und gelangen zum Rest eines mittelalterlichen Turms, der wie ein bröckelnder Zahn in den blauen Himmel ragt. Daneben ein imposantes Schloss aus dem 19. Jahrhundert, wie es sie in so vielen Dörfern Frankreich überraschenderweise gibt. Von dort stellt sich plötzlich ein Blick auf Sainte Sévère ein, das George Sand in ihrem Roman „Mauprat“ schon als Idyll beschrieben hat. Kein neueres Haus beeinträchtigt das Bild, das aus einem früheren Jahrhundert stammen könnte. Allein das neu erbaute Altersheim hinter uns beweist, wir sind nicht im Jahr 1947, als Tati hier „Jour de Fête“ drehte.

Bis in den Herbst hinein wird man das Ereignis vor sechzig Jahren feiern und zugleich den 100. Geburtstag Tatis, denn nur er hat dem Dorf eine Bedeutung gegeben, die über es hinausragt, und nur

Foto © Jörg Aufenanger
er hat unseren Begleitern, die damals, als sie im Film mitspielten, Kinder waren, den Stoff gegeben, von dem sie bis heute zehren. Tati selbst spielte den trotteligen, langaufgeschossenen Dorfbriefträger, der die französische Post amerikanisieren sollte. „Rapidité“ ruft er immer wieder, „Schnelligkeit“. Und so radelt er auf dem Postlerrad durchs Land, allen voraus und an allen vorbei, verwickelt sich dabei in burleske Situationen. Das ganze Dorf spielte mit, erzählt Jean-Claude, der in einer dieser komischen Szenen einen geldzählenden Jungen spielte: Der Pfarrer Abbé Clavier allen voran, der Dorfschullehrer, die Modistin Madame Pigois, die Kurzwarenhändlerin, der Bauer, der Tati unter seinem Freiluftklo versteckt hatte. Und ich, ruft Gisèle, erinnerst Du nicht Jean, am Schluss des Films gehörte ich doch zu den Mädchen, die zur Kirmes laufen. Ja, ja, wehrt Jean sie mit einer Handbewegung ab. Er war der Star, wurde er doch damals in einer Pariser Zeitungsreportage mit dem Titel „Ein Dorf, die Nummer Eins des Kinos“ als solcher vorgestellt. Paris ist weit, und die vier aus Sainte Sévère haben ihr Dorf kaum einmal verlassen, haben hier geheiratet, Kinder bekommen, dann Enkel und haben immer wieder vom Film erzählt. Zwischen den Hügeln des paradiesischen Lands scheint die Zeit kaum voranzukommen. In diesem Tatijahr sollen die Touristen Sainte Sévère besuchen. Auch ihnen werden die vier Filmstars von damals vom Ereignis des Lebens erzählen und Jean wird ihnen das Album zeigen, in das er Photos, Artikel und viele andere Souvenirs zu „Jour de fête“ eingeklebt hat. Er nimmt mich am Arm, beschwörend meint er: „Sie müssen wiederkommen!“ Das Leben ist nämlich eintönig, wenn er nicht von Tati und sich erzählen kann, ist nur ein langer ruhiger Fluss, denn die Schönheit der Landschaft und des Dorfes ist für ihn Alltag und nicht wie für uns Städter ein Wunder, in das wir wie in eine verlorene Zeit eintauchen. „Ja wir kommen wieder“, beruhige ich ihn, „bleiben noch einige Tage“. Wir fragen nach einer Pension, doch es gibt keine im Dorf, früher mal über dem Gasthof. „Wer kam bisher schon hierhin“, meint Jean resigniert. Doch das ändert sich ja nun im Tatijahr, strahlt er mich an, und im nächsten Jahr gebe es gar ein Museum für seinen Freund, so nennt er ihn. Dort sollen Tatis Fahrrad, seine Postlertasche neben

Foto © Jörg Aufenanger
anderen Requisiten, nein Reliquien sind es für Jean, ausgestellt werden, und zudem wird eine Szenovision die Dreharbeiten nachstellen. Wir verabreden uns für morgen in der kleinen Konditorei am Marktplatz, und dann werden die Vier noch mehr von ihrem Film erzählen.

Wir suchen in der Umgebung ein Quartier für die Nacht, finden schließlich etwa dreißig Kilometer weiter gegenüber dem Schloss von St. Chartier das ehemalige Anwesen des Hausarztes der George Sand, in dem nun das „Vallée Bleue“ Gäste empfängt. Der Patron, der zugleich Chefkoch ist, steigt die knarrenden Stiegen des kaum veränderten Landhaus voran und zeigt uns die Zimmer, die den Blick zu einem immensen Park freigeben, in dem nur der Swimmingpool ans Heute denken lässt. Hier kann man wirklich leben wie Gott in Frankreich, denn zu der begnadet anmutigen Landschaft gesellt sich eine traditionsreiche Küche, die abseits von allen Experimenten das Herz Frankreichs auch im Gaumen spüren lässt. Bevor wir am nächsten Tag nach Sainte Sévère zurückkehren, machen wir noch einen Abstecher in eins der schönsten Dörfer des Landes, nach Gargilesse, wohin sich die schon betagte George Sand mit einem jungen Liebhaber in ein Bauernhaus geflüchtet hatte. Der Bürgermeister erklärt uns, wie er das Lebensgefühl des Einst versöhnen will mit den Ansprüchen von Städtern, die in Gargilesse Häuser erworben haben. Auch hier thront ein Schloss über dem Dorf, das sein heutiger Besitzer gern und stolz Besuchern zeigt. Doch wir wollen zurück zu unseren Filmstars von einst, die uns, als wir in der Konditorei von Sainte Sévère eintreffen, schon ungeduldig erwarten. Sobald sie erzählen können, blitzen die Augen der vier Rentner wieder ganz jung. „Wir sind Tatiland“ sagt Jean und freut sich auf den Sommer und die Touristen, die mit ihm als Zeitzeugen das umfangreiche Festprogramm zum Tatijahr erleben werden.

Informationen über das Festprogramm und Unterbringung: www.pays-george-sand.com
Tel.00332-54481065
Comité de Tourisme de l’Indre. Nicole Gasquet Tel.00332/54073941
oder Maison de la France Frankfurt Info, Tel. 09001/570025
Hotel de la Vallée Bleue, Tel. 00332.5410191

© 2007 Jörg Aufenanger - zuerst erschienen in der Frankfurter Rundschau am 23.6.2007