Von Afrika erzählen

Literatur für Leser

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Hermann Schulz
Von Afrika erzählen
 
 
Die Fremde hat mich von Kindheit an angezogen wie eine Verheißung. Das ist nicht verwunderlich: die 50er Jahre drückten auf das Gemüt und waren wenig geeignet, Lebensfreude zu wecken. Auch meine Familie konnte nur wenig Heimat geben. Die Vorstellung, anderswo sei es besser, hielt sich hartnäckig. Sicher spielt auch eine Rolle, daß durch meinen Geburtsort in Ostafrika schon früh eine innere Konditionierung stattgefunden hat. Alles war auf Flucht in die Ferne angelegt.
Folgerichtig reiste ich, fast ohne Geldmittel, nach meiner Ausbildung als Buchhändler für ein Jahr in den Orient (weil mit der Bahn günstig zu erreichen), folgerichtig baute ich als Verleger (ich leitete 32 Jahre den Peter Hammer Verlag) ein Programm mit Autoren aus Lateinamerika und etwas später Schwarzafrika auf. Das wurde, wie ich finde irrtümlich, als lobenswertes Engagement für die Dritte Welt gewertet. Es war aber mehr Abenteuer und Neugier auf alles, was mir half, das eigene Unentdeckte zu fassen zu kriegen.
 
Das Erleben des Elends in Lateinamerika, der Unterdrückung von Bauern und Slumbewohnern einerseits, Reichtum und Diktaturen andererseits zog Empörung und die persönliche Politisierung nach sich - und die Erkenntnis, daß die (koloniale, imperiale) Vergangenweit weit in die Gegenwart reicht und nicht abgeschlossen ist.
Das Verlegen der (vernachlässigten) Literaturen der südlichen Kontinente verstand ich auf diesem Hintergrund auch als politischen Akt. Fernweh und Sehnsucht behielten aber ihren Stellenwert.
 
Ich griff auch sofort zu, als sich mir durch die Frankfurter Buchmesse die Möglichkeit bot, als Referent für Nachwuchsverleger in mehr als zwanzig Länder – Osteuropa, Südost –Asien, Afrika und Lateinamerika – zu reisen. Eine große Chance, aus dem Vollen schöpfen zu können.
 
Meinen ersten Roman („Auf dem Strom“, 1998, nach Sachbüchern über Brasilien und zur Revolution in Nicaragua) veröffentlichte ich im fortgeschrittenen Alter (60); eine Geschichte, die in den 30er Jahren irgendwo in Afrika angesiedelt ist. Fast gleichzeitig begann ich, mich mit der Tätigkeit meines Vaters als Missionar am Tanganjikasee zu beschäftigen. Seinem Beruf stand ich natürlich kritisch gegenüber: Die Missionierung geschah (von Ausnahmen abgesehen) im Schutz der kolonialen Militärmächte und warf eine Menge Fragen auf.
Zwei Einsichten lassen mich trotzdem die Zeit meines Vaters in Ostafrika und seinen Beruf heute gütiger betrachten: Die Gespräche mit Afrikanern, die ihn kannten und mir von seinen Leistungen im Sozialen, im Schulwesen und in der Landwirtschaft erzählten - und ihr gelassener Umgang insgesamt mit der Kolonialgeschichte. Aus keiner Begegnung ist mir erinnerlich, daß Afrikaner mich, den Weißen, haftbar machten für die Geschichte. Nur mein kenianische Autor Ngugi wa Thiong’o verzog eindeutig sein Gesicht, als er hörte, mein Vater sei Missionar gewesen; das hinderte ihn aber nicht, mir seine Bücher anzuvertrauen.
Man sollte sich durch die Gelassenheit der Afrikaner aber nicht täuschen lassen: Sie beobachten und beurteilen durchaus kritisch nicht nur die koloniale Vergangenheit, sondern auch das Verhalten der weißen Touristen, Experten oder Entwicklungshelfer. Nur sprechen sie uns gegenüber aus Höflichkeit selten davon. An einem unvergeßlichen Abend in Tansania erzählte mir ein befreundetes Ehepaar, das durch seine Berufe mit vielen Ausländern zu tun hatte, in gelockerter Stimmung und beinahe heiter unglaubliche Erlebnisse mit Dänen, Franzosen, Engländern und Deutschen; das trieb mir die Schamröte ins Gesicht und ich kann nicht so recht glauben, daß meine afrikanischen Freunde das alles so gelassen hinnahmen wie sie es mir vortrugen. Die tief sitzenden Verbitterungen nehmen wir nur selten wahr.
 
Meine Erfahrungen auf Reisen spiegelten sich, ohne daß ich es groß reflektiert hätte, in meinem ersten Roman. Ich erzählte von jenem zivilen, humorvollen und überraschenden Afrika, wie ich es selbst erlebt und genossen hatte.
Eine Frage zieht sich dann durch weitere Bücher: Wie sind sich Afrikaner und Europäer in Vergangenheit und Gegenwart begegnet, hatten sie jemals „auf Augenhöhe“ miteinander zu tun, welche Spuren haben die einen und anderen hinterlassen? Bei der Suche nach brauchbaren Antworten halfen mir meine Freundschaften zu Afrikanern, vor allem den Autorinnen und Autoren, mehr als alle Theorien. Da sind in erster Linie zu nennen: Francis Bebey aus Kamerun, Said Mzee aus Tansania, Lesego Rampolokeng aus Südafrika und Meja Mwangi aus Kenia; ihnen verdanke ich, es sei in Bescheidenheit gesagt, „afrikanische“ Einsichten.
Viel Zeit verbrachte ich später in Missionsarchiven, habe dort Berichte und Briefe gelesen und bin tief eingetaucht in persönliche Dramen jener Zeit, als der Kontinent noch fast vollständig von Engländern, Franzosen und Portugiesen beherrscht wurde. Überraschend war für mich die Lektüre einer alten „Handreichung“ aus den 20er Jahren für ausreisende Missionare, herausgegeben von der Missionsgesellschaft Bethel (Bielefeld). Der Autor holte die, vermutlich heftig von ihrem Sendungsbewußtsein durchdrungenen Missionszöglinge (so nannte man sie tatsächlich) auf den Boden der Tatsachen. Ich zitiere sinngemäß, weil ich leider das Heft nicht mehr besitze:
 
Bildet euch nicht ein, eure tolle Predigt oder der Geist des Evangeliums wären der Beweggrund für Bekehrungen der Neger. Sie lassen sich von euch taufen, weil Ihr Vertreter der herrschenden Macht seid, weil sich ihnen durch die Taufe Schulen öffnen und Arbeitsplätze garantiert werden. Auch steigt ihr Ansehen, wenn sie Christ werden. Weil wir, die Weißen, überall die Macht ausüben! Darüber dürfen wir nicht hinweg sehen!
 
Aus der eher fundamentalistischen Missionsgesellschaft meines Vaters kannte ich solche Töne nicht, erinnerte mich aber an einen bemerkenswerten Bericht aus seiner Arbeit: er hatte zielstrebig schwarze Lehrer ausgebildet und stieß bei seinem Versuch, ihnen Arbeitsplätze in den umliegenden Orten zu schaffen, auf ein für mich zunächst überraschendes Problem: die Chiefs und Könige wollten sie nicht! Sie verlangten „weiße“ Lehrer. In ihren Augen waren schwarze Lehrer nicht gleichwertig und wenig förderlich für ihr Ansehen. Also erlaubten sie den katholischen Missionen, die mit unbegrenzten Geldmitteln auftraten,  den Bau von Schulen, weil sie ihnen Lehrer aus Europa (Priester, Nonnen und Mönche) versprachen. Daß mit den Schulen zugleich auch Kirchen und Gemeindehäuser gebaut wurden, nahmen sie in Kauf; sehr zum Ärger des fast mittellosen evangelischen Missionars.
 
In mehreren meiner Bücher spielt ein Deutscher aus Pommern eine Rolle, der den größten Teil seines Lebens in Afrika lebte und seine Kinder wegen seiner Geldknappheit in die kostenlosen Missionsschulen schickte.
Dr. Egon Friedrich Kirschstein hatte als Geologe 1909/1910 die aufwendige, aber wenig ertragreiche Forschungsreise des Herzogs Adolf von Mecklenburg begleitet. Er kehrte in den 20er Jahren nach Afrika zurück, um auf eigene Faust Bodenschätze zu suchen; nach allem, was ich später erfuhr, war er als Geologe wenig erfolgreich (die Kiste mit seinen Aufzeichnungen liegt allerdings noch unausgewertet in Dodoma bei seinem Sohn Adolf Friedrich Kirschstein). Mit einer schwarzen Frau (Masiti Mlenga Kapunga) hatte er sechs Kinder. Um sie zu ernähren, versuchte er sich in der Nähe des Missionshauses meines Vaters als Farmer. Für eine erfolgreiche Landwirtschaft allerdings fehlten ihm alle Voraussetzungen. Da half auch nicht die Beratung durch meinen Vater, der von einem Bauernhof im Wendland stammte. Also bewarb er sich in seiner Not (obwohl er die Engländer verachtete und patriotisch-deutsche Gedichte schrieb) bei den englischen Kolonialherren um eine Anstellung.
Nun war es durchaus Gang und Gäbe, daß weiße Männer Kinder mit schwarzen Frauen zeugten (und sich dann nicht mehr um sie kümmerten), aber Kirschstein lebte mit seiner Frau und seinen Kindern in einem Haus wie eine Familie (er hatte auch noch Frau und Kinder in Berlin). Das mochten die Engländer nicht akzeptieren: „Schicken Sie ihre schwarze Brut weg, dann können sie für uns arbeiten“, beschied man ihn.
Kirschstein lehnte das Ansinnen rundweg ab, für die damalige Zeit ungewöhnlich. In der Erinnerung seiner zahlreichen Nachkommen allerdings spielt diese klare Entscheidung bis heute eine stolze Rolle.
Mit seinem jüngsten Sohn Adolf habe ich mehrere Reisen unternommen; er erzählte auf den langen Fahrten und in den Abendstunden aus dem abenteuerlichen Leben seiner Familie – und von seinem eigenen bemerkenswerten Schicksal. Er ist Vater von 43 Kindern, die alle Kirschstein (und mit 2. Vornamen Adolf, auch die Mädchen!) heißen und stolz sind auf ihren deutschen Großvater (inzwischen dürfte die Kirschstein-Sippe auf 500 angewachsen sein).
Ich hatte dem alten Geologen Kirschstein und seiner Familie (und seinem damals noch kleinen Sohn Adolf) bereits in „Auf dem Strom“  ein kleines Kapitel gewidmet. In einem späteren Roman „Leg nieder dein Herz“ (2005), in dem ich das Leben einer frömmelnden, aber handfesten (und liebesbesessenen) deutschen Missionarin erzähle, kauft ein britischer Wirtschaftsanwalt  (Joseph Pollock) dem Sohn Adolf die Kiste mit den Aufzeichnungen seines Vaters ab und macht sich daran, sein gerade durch eine Scheidung verloren gegangenes Vermögen aufzubessern.
Mit solchen und anderen historischen Vorlagen bin ich immer unbedenklich umgegangen, ebenso in meinem Kinderroman „Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt“ (2003), in dem ich vom heiter-tragischen Überlebenskampf der Familie Kirschstein erzähle, nachdem der Vater in einer Grube verunglückt ist.
 
Inzwischen war mir selbst aufgefallen, daß ich nach über dreißig Lateinamerikareisen und (nur)  – geschätzt zehn Afrikareisen – kein Buch geschrieben habe, das in Lateinamerika spielt, wohl aber ein Dutzend Romane und Geschichten aus Afrika. Dahinter steckt kein magisches Geheimnis: Der Kontinent ist voller Geschichten, eine Schatztruhe für jeden Autor, vorausgesetzt er läßt sich auf die Afrikaner ein und findet einen Zugang zu ihrer Art, die Welt zu sehen. Aus diesem Fundus habe ich mich bedient und keine Versuche gemacht, marktgerecht Kindersoldaten auftreten zu lassen, Massaker und politische Konflikte zu erfinden. Daß die Vergangenheit, vor allem die Kolonialzeit, in allen meinen Afrika-Büchern eine Rolle spielt, wenn auch nicht als Hauptthema, vermittelt den Lesern vielleicht einen leichteren Zugang zu den unglaublichen Verbrechen Europas an einem ganzen Kontinent. Außerdem ist an historischen Darstellungen auf unserem Buchmarkt kein Mangel, auch wenn sie in Deutschland wenig populär sind. Wenn ich recht informiert bin, wurde sogar das fundamentale Werk von Adam Hochschuld „Schatten über dem Kongo“ (Klett-Cotta 1998) verramscht.
 
Einer meiner Romane trägt den Titel „Zurück nach Kilimatinde“ (2002); in meinen Augen ist mit dieser Geschichte gelungen, das Zusammentreffen von Weiß und Schwarz in vielen dramatischen Aspekten in der Gegenwart darzustellen; und vielleicht auch das scheinbare Scheitern eines weißen Idealisten, des Missionars Gotthold Heinrich Geldermann.
Es gab zwei Anstöße zu diesem Buch: In einem Missionsarchiv las ich den Bericht über einen deutschen Missionar, der sich ausbedungen hatte, ein als besonders schwieriges geltendes „Missionsfeld“ zugewiesen zu bekommen, am oberen Tana-Fluss in Kenia. Dieser Mann war leidenschaftlich erfüllt von seiner Aufgabe, die Heiden zu Christus zu bekehren. Die Gegend war fieberverseucht und kaum erforscht, er verlor durch Krankheiten in kurzer Zeit seine Frau und seine fünf Kinder. Das aber war für ihn das Zeichen Gottes, hier am richtigen Ort zu sein. Er baute Kirche und Schule, predigte und unterrichtete – und ließ sich nicht dadurch beirren, daß die Pokomo und Gala sich nicht taufen ließen und die Schule nicht besuchen wollten; seine Maßstäbe zu Erfolg oder Mißerfolg „legte er in die Hände Gottes“. Die Kontakte zu seiner Mission und den englischen Kolonialherren schliefen nach und nach ein; niemand kümmerte sich um den Sonderling.
Nach einigen Jahren versank er in eine tiefe Depression und verließ kaum noch seine Hütte; ein alter Afrikaner kümmerte sich um ihn, damit er nicht völlig verwahrloste.  Eines Nachts erschoß er sich vor seiner Hütte.
Die Geschichte dieses leidenschaftlichen Mannes faszinierte mich.
Ein weiterer Anstoß zu diesem Roman schenkte mir die Begegnung mit einem deutschen Missionsarzt in Tansania. Er lebte in einer ärmlichen Gegend, arbeitete täglich bis zu 16 Stunden unter schwierigsten Bedingungen, hatte meist zu wenig Medikamente zur Verfügung, aber er war die Ruhe selbst, beklagte sich nie und wurde offensichtlich von den Afrikanern verehrt und geliebt.
Als ich ihn fragte, woher er denn Gerätschaften und Medikamente bekäme, sagte er lächelnd: „Ich habe einen wohlhabenden Freund in Deutschland, der schickt mir, was ich brauche.“
Als ich einige Monate später in Aachen einen Vortrag über afrikanische Literatur hielt, saß in der ersten Reihe ein Mann, dessen Anzug man ansah, daß er gut und gern zwei meiner Monatsgehälter als Verleger gekostet hatte. Er hörte aufmerksam zu.
Nach dem Vortrag stellte er sich als Freund jenes Arztes vor und lud er mich zu einem Glas Wein ein. Wir leerten in den nächtlichen Stunden gemeinsam zwei Flaschen oder mehr. Er war gierig danach, alles über seinen armen Freund in Afrika zu erfahren. Nach der zweiten Flasche weinte er beinahe, als er mir gestand: „Ich habe mit Christentum, Mission oder Afrika, verdammt noch mal!, nichts am Hut. Was gehen mich die Neger an!? Aber mein Freund ist wie der bessere Teil meiner Persönlichkeit, ihm werde ich, egal was er verlangt, die Treue halten! Er fehlt mir immer …“
 
Aus solchen Geschichten sind meine Bücher entstanden, Sender und Antenne stimmten auf magische Weise überein. Vielleicht ist es gelungen, einige Bilder Afrikas (und ihrer europäischen „Freunde“) zu vermitteln, die den Lesern etwas von dem zeigen, was Afrika ausmacht und im Mittelpunkt eines geschichtlichen Dramas steht, das in alle Lebensbereiche der Afrikaner hinein reicht und das ich bis heute nicht genau benennen kann.
 
Ein Psychotherapeut, der meine Lebensgeschichte kennt – mein Vater starb kurz nach meiner Geburt -, würde vermutlich urteilen: Da ist ein Autor auf der Vatersuche!
Ja, und?
 
 
Autorennotiz:
Hermann Schulz wurde 1938 in Nkalinzi/Ostafrika als viertes Kind einer Missionarsfamilie geboren; sein Vater starb auf der Heimreise. Schulz leitete (als Nachfolger von Johannes Rau) von 1967 bis 2001 in Wuppertal den Peter Hammer Verlag. Für seine verlegerische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. 1998 mit der Hermann-Kesten-Medaille des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Er veröffentlichte zwischen 1998 und 2011 achtzehn Romane, Kinderbücher und Sachbücher; die meisten im Carlsen-Verlag Hamburg. Er lebt in Wuppertal.
 
Dieser Text von Hermann Schulz wird demnächst in der Publikation „Zur Imagination des Fremden in der literarischen Repräsentation des deutschen Kolonialismus“, einem Themenheft der Reihe  literatur für leser  der University of Washington in Washington, D.C. erscheinen. Wir danken Hermann Schulz und den Herausgebern für die Erlaubnis des Vorabdrucks.
 


© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker