Kurt Kranz – die Programmierung des Schönen

Ausstellung in Dessau zum 100. Geburtstag des Bauhaus-Künstlers

von Rainer K. Wick

Kurt Kranz 1981 - Foto © Rainer K. Wick




Kurt Kranz –
die Programmierung des Schönen
 
Die Stiftung Bauhaus Dessau ruft anläßlich des
100. Geburtstags des Bauhaus-Künstlers
dessen avantgardistisches Œuvre in Erinnerung
 
Daß Bielefeld in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts eine größere Rolle gespielt hat als bisher allgemein bekannt, zeigt die aktuelle Ausstellung in der dortigen Kunsthalle mit Werken der sog. Westfälischen Expressionisten. Doch auch im Hinblick auf das Bauhaus ergibt sich ein Bezug zu Bielefeld. Denn im Winter 1929/30 hielt László Moholy-Nagy im Gymnasium der ostwestfälischen Stadt einen Vortrag über diese progressivste aller Reformkunstschulen der Zwischenkriegszeit, der von einer kleinen Ausstellung mit Arbeiten einiger Bauhaus-Künstler begleitet wurde. Zu den Zuhörern gehörte ein kaum zwanzigjähriger junger Mann, der soeben seine Berufsausbildung als Lithograph abgeschlossen und nebenher über Jahre hinweg die Abendkurse der örtlichen Kunstgewerbeschule besucht hatte: Kurt Kranz (1910–1997). Vortrag und Ausstellung wurden ihm zum Schlüsselerlebnis, fand er hier doch eine Bestätigung dessen, was ihn - ohne Kenntnis der damaligen Avantgarde - in der Abgeschiedenheit der Provinz selbst schon seit langem künstlerisch umgetrieben hatte, nämlich das Problem abstrakter Gestaltung. Schon als Fünfzehnjähriger hatte er 1925 eine Folge von 56 kleinformatigen abstrakten Kompositionen geschaffen und - was im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Künstlers wichtig ist - in einem Buch in Reihenform zusammengefaßt. In einer derartigen Vorgehensweise deutet sich schon früh das zeitlebens gültige Arbeitsprinzip von Kranz an, nämlich das „Prinzip seriell“, das später in Praktiken des generativen Gestaltens einmündete.
 
Frühe Formreihen
 
1928 entstand die Formreihe 20 Bilder aus dem Leben einer Komposition, ein Jahr später. die Reihe Schwarz : Weiß - Weiß : Schwarz, die ausschließlich auf der kühlen Präzision der geometrischen Elemente Gerade und Kreis beruht. Es handelte sich um Bildreihen, die „weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen“, sondern „visuell, nur visuell wirken“ wollen – um eine Formulierung aus Moholy-Nagys Buch „Malerei, Fotografie, Film“ aufzunehmen. Schon damals war Kranz klar, daß das eigentlich angemessene Medium für derartige Reihen der Film sei, doch fehlten ihm zur Realisierung zu jener Zeit sowohl die technischen Möglichkeiten als auch die finanziellen Mittel.
Ausgerüstet mit dem Gesellenbrief als Lithograph - keine schlechte Referenz am Bauhaus, wo Handwerkliches trotz aller Technikorientierung auch zu Beginn der Dreißiger Jahre immer noch groß geschrieben wurde - und im Besitz eines eigenen bildnerischen Konzeptes, schrieb sich Kranz zum Sommersemester 1930 am Bauhaus in Dessau ein. Hier fand er inspirierend Neues - nicht nur die avancierten, von Gropius entworfenen Bauhaus-Bauten, sondern auch Lehrer, die nach progressiven Methoden unterrichteten und avantgardistische künstlerische Positionen vertraten. Bei Albers durchlief er den obligatorischen Vorkurs, wo systematische Material- und Materieübungen stattfanden, er nahm an den Kursen von Klee (bildnerische Formenlehre) und Kandinsky (Farbseminar, analytisches Zeichnen, Einführung in die abstrakten Formelemente) teil, besuchte ferner die „freie Malklassen“ dieser beiden Jahrhundertkünstler und studierte bei Joost Schmidt in der Reklameabteilung.

Der heroische Pfeil  - Foto © Rainer K. Wick
Es ist nur natürlich, daß sich in den Studienarbeiten eines lernbegierigen jungen Mannes wie Kranz mit einer großen Offenheit für das, was um ihn herum geschah, Einflüsse der Lehrer manifestieren. Gleichwohl ist es ihm - im Unterschied zu manch anderem Bauhäusler - schon als Student gelungen, Eigenes zu entwickeln und nicht zum Abziehbild seiner Lehrer zu werden.
Ein besonders interessanter Beleg dafür ist der Entwurf eines Zeichenfilms mit dem Titel Der heroische Pfeil von 1930/31. Hier hat Kranz Erfahrungen aus dem Bauhaus-Unterricht, konkret das Pfeil-Thema Paul Klees, aufgenommen und, seinem Reihenkonzept gemäß, in eine aus 60 Einzelbildern bestehende Sequenz umgesetzt. Geplant war ein Film von etwa drei Minuten Dauer, der einen Pfeil zeigt, „der alle Widerstände und Widersacher überwindet“ und letztlich „in den Kreis der Zeitlosigkeit“ eingeht.
Mit prinzipiell ganz ähnlichen Formfragen wie im Heroischen Pfeil setzte sich Kranz auch in seinem Leporello Entwurf zu einem Farbfilm von 1930/31 auseinander. Es handelt sich um 32 in

Entwurf für einen Farbfilm  - Foto © Rainer K. Wick
Mischtechnik gemalte Phasen, die um die bildnerischen Probleme von Formentstehung, Formverwandlung, Formauflösung und erneuter Formwerdung kreisen. Einmal mehr wird hier deutlich, daß sich das Denken des Künstlers ganz im Sinne seines Lehrers Paul Klee nicht auf die „Form-Enden“ konzentriert, sondern auf die Genesis der Form. Nicht statisch ist demnach der Kunstbegriff von Kranz, sondern essentiell prozessual, nicht geschlossen, sondern offen, und zwar deshalb, weil „kein Definitives, kein Dauerzustand anerkannt wird.“ Hatten die Kubisten und im Anschluß daran die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das geschlossene, statische Weltbild, wie es sich seit der Renaissance im perspektivischen Bildraum darstellt, durch die simultane Wiedergabe des nur sukzessiv Erfahrbaren aufgebrochen und dynamisiert, so war es – darauf aufbauend - das Anliegen von Kranz, mit Hilfe serieller Methoden Wuchs und Wandel, also Prozeßhaftigkeit als daseinsbestimmendes Permanenzphänomen (etwa im Sinne von Heraklits „alles fließt“) zur Anschauung zu bringen.
 
Fotosequenzen der Bauhaus-Zeit
 
Die prinzipielle Entscheidung, in Reihen oder Folgen, in Serien und Sequenzen zu arbeiten, fand auch im fotografischen Œuvre von Kurt Kranz ihren Niederschlag. Seine Anfang der Dreißiger Jahre entstandenen fotografischen Reihenbilder von Handgesten sowie die Fotosequenzen von
 
Mundreihen - Foto © Stiftung Bauhaus Dessau
Gesichtern, Mündern und Augen sind mithin das Progressivste, was um 1930 in der Fotografie passierte. Es handelt sich um Arbeiten, die das klassische „Axiom vom in sich geschlossenen und aussagefähigen Bild“ (Kemp) nachdrücklich entkräften. Obwohl diese mit radikaler formaler Konsequenz durchgeführten Fotoreihen Denkansätze aufgriffen, die in der damaligen Theoriedebatte um eine zeitgemäße Fotografie an der Schnittstelle zum Film keine Seltenheit waren, war Kranz mit diesen Arbeiten nicht nur am Bauhaus, sondern in der Fotoszene seiner Zeit insgesamt eine absolute Ausnahmeerscheinung. Sein höchst origineller und in Dessau mit einigen prägnanten Beispielen gut dokumentierter Beitrag zur Geschichte der Fotografie blieb über lange Jahrzehnte nicht nur folgenlos, sondern überhaupt unbemerkt. Erst mit der Entfaltung von Pop Art, Konzeptkunst und Body Art in den Sechziger und Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann die allmähliche Rezeption seines fotografischen Œuvres.
 
Generative Gestaltung
 
Daß es am Bauhaus, das in der Regel allein mit Begriffen wie Konstruktivismus und Funktionalismus in Verbindung gebracht wird, auch surrealistische Tendenzen gab, wird meist vergessen. Die Dessauer Ausstellung präsentiert einige großformatige Fotomontagen des jungen Kranz aus den frühen Dreißiger Jahren, die mit irrealen Räumen und rätselhaften Szenarien spielen und deutlich dem Surrealismus verpflichtet sind. Doch erscheint die surrealistische Phase des Künstlers im Rückblick eher als Intermezzo. In den Fünfziger

Vereinsamung - Foto © Stiftung Bauhaus Dessau
Jahren und Sechziger Jahren betrieb er, inzwischen Lehrer an der Hamburger Landeskunstschule und dann Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, systematische Untersuchungen zu den Problemen und Möglichkeiten von Reihe und Struktur, Gitter und Feld, von Formgenese und Formvariation. Schiebebilder und Faltobjekte bezogen den Kunstrezipienten innerhalb bestimmter Grenzen als aktiv Handelnden in den Prozeß der Bildwerdung ein. Obwohl zunächst ein streng geometrischer Formenschatz dominierte, erweiterte Kranz die hochabstrakte, wenn man so will platonische Formenwelt des Bauhauses durch den geradezu unendlichen Reichtum organischer Formen, durch die Wachstumsformen der Natur und durch naturanaloge Prozesse der Werkentstehung. Erneut sieht sich der Besucher der Ausstellung auf den Kunstbegriff von Paul Klee verwiesen, jenes Künstler-Lehrers, der Kurt Kranz vielleicht noch stärker beeinflußt hat als Wassily Kandinsky. Dies gilt übrigens auch für einen großen Komplex von Arbeiten des Künstlers, der in den Achtziger Jahren entstand und zunächst wie eine Abkehr vom Reihenthema erscheint. Es handelt sich um Bilder, in denen die Reihe durch scharfe Zäsuren und Umschichtungen von Formkomplexen ihren linearen Fluß, ihre zeilenartige Kontinuität, ihr allmähliches Gleiten verloren hat. Stattdessen finden sich nun Form-Farb-„Quanten“ mehr oder minder regelmäßig über die Bildfläche verteilt, sodaß an die Stelle des früheren Reihencharakters eine Formstreuung über das gleichwertige Feld tritt. Die ästhetische Strategie, die dem zugrunde liegt, heißt Teilen und Montieren, Zerschneiden und Zusammenfügen - auch dies eine Strategie, die Kurt Kranz mit Klee gemeinsam hat. Ebensowenig wie für seinen Lehrer bedeutet das Prinzip Teilung für Kranz etwas Destruktives, sondern es ist - wie die Zellteilung in der Natur - die Bedingung der Möglichkeit von etwas Neuem und besitzt insofern eine eminent konstruktive Dimension.

Faltobjekte und Schiebebilder - Foto © Stiftung Bauhaus Dessau
Daß die materialreiche, manchmal etwas dicht gehängte Dessauer Ausstellung mit dem Untertitel „Die Programmierung des Schönen“ läuft, ist natürlich nicht zufällig. Hergeleitet ist dieser Titel von einem Buch des Philosophen und Begründers der informationstheoretischen Ästhetik Max Bense, mit dem Kurt Kranz befreundet war (Aesthetica. Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik, 1960). Kranz, dessen bisher eher Insidern bekanntes Œuvre jetzt in Dessau angemessen gewürdigt wird, hat sich schon früh für die Möglichkeiten computergesteuerter Kunst interessiert. In großen Teilen hochgradig rational determiniert und auf dem generativen Prinzip beruhend, sind seine Bilder bei aller Formstrenge dennoch nicht gleichsam mathematisch errechnet, sondern das Ergebnis individueller, oftmals unerwarteter künstlerischer Entscheidungen. Wie Paul Klee schon 1928 treffend bemerkt hatte: „Wir konstruieren und konstruieren, und doch ist Intuition immer noch eine gute Sache. Man kann ohne sie Beträchtliches, aber nicht alles …“
 
 
Kurt Kranz – die Programmierung des Schönen
Stiftung Bauhaus Dessau
bis 29. Mai 2011, täglich von 10 bis 18 Uhr
kein Katalog - angekündigt, aber noch nicht erschienen ist eine Mappe im DIN A3-Format mit 12 Reproduktionen ausgewählter Arbeiten des Künstlers

Redaktion: Frank Becker