Visitenkarten

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek / Archiv Musenblätter
Visitenkarten
 
Was ich Sie schon lange fragen wollte, obwohl mir das fast peinlich ist. Haben Sie eigentlich eine Visitenkarte? Sie auch nicht? Da fällt mir ja ein Stein vom Himmel. Ich habe nämlich schon gedacht, ich wäre wieder mal der einzige auf der ganzen Welt, der keine Visitenkarte hat. Sagt man doch immer: »Ich gebe Ihnen dann meine Karte.« Oder: »Haben Sie vielleicht eine Karte für mich?« Und dann sage ich immer: »Oje, jetzt habe ich grad keine bei mir. Die sind mir gestern ausgegangen. Und ich sehe inzwischen auch ganz anders aus, und die Druckerei stellt gerade auf Computer um.« Aber in Wirklichkeit habe ich noch nie eine Visitenkarte gehabt, obwohl es natürlich praktisch ist, ohne Zweifel. Ich habe auch im Prinzip nix dagegen, bloß ich habe keine, ich habe auch keinen Videorecorder, obwohl alle Welt bei meiner Profession annimmt, der hat bestimmt einen Videorecorder. Ich habe auch keinen Führerschein, ich habe auch keine Kreditkarte. Aber so eine Visitenkarte sollte man eigentlich schon haben, wäre schon standesgemäß. Denn wenn man sagt, man hat keine, und muß dann die Adresse und die  Telefonnummer auf einen Zettel schreiben, der meistens nicht vorhanden ist, dann ist das schon unangenehm. Ich meine, so gesellschafts-geschäftlich, man steht dann einfach eine Stufe tiefer, habe ich immer das Gefühl, und der andere guckt einen dann auch so komisch an, als wollte er sagen, bin ein bißchen enttäuscht von Ihnen, scheinen doch nicht der zu sein, für den ich Sie immer gehalten habe. Genau das steht denen dann immer im Gesicht geschrieben. Ich weiß doch, wie Leute aussehen, die so was denken, und immer sage ich mir dann, morgen läßt du dir sofort eine Karte machen, dann bist du endlich auch gesellschaftlich einwandfrei und kannst dann zu jedem sagen: »Möchten Sie vielleicht eine Karte von mir?« Ich habe auch keinen Anrufbeantworter, aber so eine Visitenkarte, sage ich immer, gehört eigentlich in jedes Haus. Ich habe in meiner Brieftasche mindestens zwanzig Visitenkarten, alle von anderen Leuten. Die meisten kenne ich gar nicht mehr, aber wenn ich mir tatsächlich eine machen laß, demnächst, dann werde ich wahrscheinlich nur meinen Namen draufsetzen lassen. Das ist am vornehmsten. Nur in der Mitte der Name, ganz schlicht ohne alles. Die Adresse und das Telefon kann ich dann mit der Hand noch draufschreiben. Also irgendein Weg muß da gefunden werden, ich halte nämlich die Blicke nicht mehr aus. Außerdem spricht sich schnell rum: Der hat nicht mal eine Karte. Man kann das alles für übertrieben halten, aber ich empfinde das immer so. Obwohl ich auf der anderen Seite wieder sage, eigentlich ist das alles dummes Zeug, man kann auch ohne Karte Mensch sein, und Duelle, die gibt es ja heute nicht mehr, wo man vorher die Karten getauscht und danach die Klingen gekreuzt hat. Dafür  würde ich mir vielleicht noch so eine Karte drucken lassen, für Duelle, ich bin ja Romantiker.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung