Unter Ratten (1)

Erzählung

von Dorothea Renckhoff
Unter Ratten (1)

Erzählung
von Dorothea Renckhoff


Plötzlich war die Luft von gellendem Kreischen erfüllt. Die Äste der  alten Platane gerieten in wilde Bewegung, und eine Wolke grüner Papageien schwirrte zwischen den Blättern hervor.
‚Da sind sie wieder,’ sagte die alte Dame, ‚die kommen vom Melaten-Friedhof. Ob die eine von uns holen wollen?’ Ganz kurz sah sie ihre Begleiterin aus den Augenwinkeln an, und Frau Metternich explodierte ganz wie erwartet: es gab keine Papageien auf Melaten, und erst recht nicht im Stadtgarten, jeder wußte, daß die bei uns im Freien nicht überleben können, schließlich war man hier nicht in Ceylon, und wenn man langsam kindisch wurde, sollte man lieber den Mund halten. Und überhaupt würde sie das dem Sohn der alten Dame erzählen müssen. Bei seinem nächsten Besuch.
Die alte Dame nickte und sagte nichts mehr. Geduldig schob sie sich an Frau Metternichs Arm den breiten Weg entlang, ganz langsam, mit winzigen Schritten. Geduld, die brachten sie einem bei, wenn man alt war. Zu allen Dummheiten schweigen, zu allen Unverschämtheiten ja und amen sagen, bloß weil man allein nicht mehr fertig wurde. Doch dies Mal war es Frau Metternich, die besser den Mund gehalten hätte. Gerade hatte sie ihr eigenes Todesurteil ausgesprochen.
Die alte Dame lächelte ein bißchen. In einem Monat wollte ihr Sohn kommen. Bis dahin mußte es passiert sein.
Wenn diese Person doch nur einmal wie ein vernünftiger Mensch reagiert hätte. Die Sache mit den Papageien hatte sogar schon in der Zeitung gestanden, aber Frau Metternich las keine Zeitung. Sie las überhaupt nichts, nicht einmal die Etiketten auf den Sherryflaschen, aus denen sie heimlich trank, und darum war es gar nicht so schwer, sie nach Melaten zu schicken, mit oder ohne Papageien. Die alte Dame blähte die Nasenflügel vor unterdrücktem Vergnügen.
 
Da setzen Sie sich jetzt hin und warten, bis ich zurückkomme,’ verlangte Frau Metternich und blieb bei einer leeren Bank stehen, ‚ich muß Ihnen ja wohl wieder mal Ihre Jacke holen.’ Der alten Dame stand schon jetzt der Schweiß auf der Oberlippe. Und während sie sich ganz vorsichtig auf die harte Bank sinken ließ – das Hinsetzen war in den letzten Jahren fast so mühselig geworden wie das Aufstehen – sah sie ihre Begleiterin schon dem Ausgang des Parks zustreben, wie ferngesteuert von der Gier nach dem Sherry im Küchenschrank.
Vor zwanzig Jahren hatte die alte Dame selbst gern Sherry getrunken. Sie ließ sich regelmäßig einen trockenen und doch vollen Amontillado ins Haus schicken und glaubte darin eine herbe Erinnerung an die abgeholzten Kastanienwälder des schattigen Spanien zu schmecken. Bis sie merkte, dass Frau Metternich mit ihren nassen Lippen aus derselben Flasche trank. Ohne Glas, direkt aus der Flasche. Frau Metternich, das Weib, das ihr Sohn als Stütze und Stab für sie engagiert hatte, als er nach  Zürich zog. Und jetzt wurde die Stütze mit jedem Tag dreister, schluckte jedes Mal ein bißchen mehr und genoß das Gefühl, daß sie den Wein der alten Dame trank und daß die es wußte und sich nicht wehren konnte. Sondern die fast geleerten Flaschen stillschweigend wegwarf. Denn immer ließ Frau Metternich einen winzigen Rest übrig, anfangs, um den Schein zu wahren, später zum Hohn. Eines Tages begann sie, auch die ungeöffneten Flaschen anzubrechen und auszutrinken, bis auf den widerlichen Rest.
Die alte Dame hatte sich geekelt und die Bestellung beim Weinhändler unterlassen. Seitdem wurde der Sherry bei Aldi gekauft und oben im Küchenschrank aufbewahrt. Frau Metternich hatte das als Sieg verbucht, denn sie mißbilligte Feinkost und Spezialitäten und erledigte sämtliche Einkäufe für die alte Dame in Billigmärkten. Und jetzt marschierte sie der Wohnung zu, um den ersten Zug des Tages aus der geliebten Flasche zu tun. Weitere würden später folgen, bis zum Abschiedsschluck, ehe sie nach Hause ging. Die alte Dame lächelte wieder. Diesen letzten Schluck hatte sie gut vorbereitet. Ihr Gesicht sah jetzt ziemlich boshaft aus.
 
Frau Metternichs fester Schritt hatte eine Ratte aufgescheucht. Die alte Dame sah erwartungsvoll zu, wie das häßliche Tier über den Weg rannte. Ratten waren das Einzige, wovor ihre Stütze eine wahre Todesangst hatte. Doch kein Erschrecken, kein Aufschrei; Frau Metternich hatte das Ungeheuer nicht gesehen, und das Tier verschwand in einem Kellerfenster neben dem Parktor. Die alte Dame seufzte.
‚Schade um das schöne Haus,’ sagte jemand über ihr. Die alte Dame schrak zusammen, doch es war nur der Pfarrer, der mit seiner Einkaufstasche bei ihr stehen geblieben war. ‚Früher hat ein Gärtner drin gewohnt,’ sagte die alte Dame. Etwas zu beleibt, dieser Pfarrer, aber doch ein netter Junge. Sie wäre gerne öfter in seine Kirche gegangen, aber Frau Metternich fand das übertrieben.
‚Haben Sie damals schon hier gewohnt?’ fragte er. ‚Ich bin hier geboren,’ sagte die alte Dame, ‚mein Geburtstag steht auf einem Balken an dem Fachwerkgiebel da drüben. Mein Vater hat es mir immer gezeigt, wenn wir vorüber gingen. >Bei seinem ersten Besuch in Köln mit seinem lenkbaren Luftschiff LZ 2 am 5. 8. 1909 nahm Graf Zeppelin in diesem Hause Wohnung.< An dem Tag bist du geboren worden, hat mein Vater gesagt. Später ist er Missionar auf Ceylon geworden.’ ‚Sri Lanka,’ berichtigte der Pfarrer, ‚Sri Lanka heißt das jetzt.’ Die alte Dame nickte lächelnd. Bloß weil man alt war, hielten sie einen für blöd. ‚Ich weiß,’ sagte sie, ‚wir haben noch Freunde dort. Enkel unserer Freunde von damals, Urenkel. Einer kommt mich bald besuchen.’ Sie war als kleines Mädchen selbst ein paar Jahre dort gewesen. Plötzlich spürte sie wieder den weichen Sand unter den nackten Füßen, fühlte, wie das warme Wasser an ihren Beinchen hochspritzte, während sie am Wellensaum entlanglief. Feste runde Beinchen mit glatter Haut. Wie konnte das sein, daß diese Beine jetzt zwei grauen Stöcken glichen und sie kaum noch trugen?
‚Wie schön,’ sagte der Pfarrer, ‚Sie sind nie allein. Und dann haben Sie ja auch diese wunderbare Wohnung.’ Ja, die Wohnung am Park. Nur ein paar Meter von ihrem Elternhaus entfernt: als junge Frau war sie eingezogen, mit Mann und Sohn und Dienstmädchen; jetzt lebte sie allein in den großen Räumen und bekam täglich von Frau Metternich zu hören, in einem Zimmer im Altersheim wäre sie besser aufgehoben, und im Grab werde sie noch weniger Platz haben. Es war leichtsinnig von ihrem Sohn gewesen, der Person für später die Wohnung zu versprechen. Aber Bubi war ja schon immer auf die falschen Leute hereingefallen. Denn Frau Metternich wollte nicht mehr länger warten.
 
Seit einiger Zeit konnte die alte Dame sich nicht mehr auf die seltenen Besuche ihres Sohnes freuen, denn sie spürte, wie er sie jedes Mal verstohlen und immer besorgter beobachtete. Die Metternich hatte Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit seiner Mutter in ihm geweckt. Kleine Bemerkungen über große Geldsummen und kostbare Schmuckstücke, die angeblich an wildfremde Leute verschenkt worden waren, wahre und erfundene Geschichten von verlorenen Schlüsseln, offenen Gashähnen und brennenden Kerzen auf dem Fernsehapparat. Es war unverantwortlich, gab sie zu verstehen, einen so alten und zeitweilig verwirrten Menschen für viele Stunden und ganze Nächte sich selbst zu überlassen, und wenn nun die Mutter eines Tages das Haus anzündete?
Wenn Bubi das nächste Mal kam, würde Frau Metternich auf eine Entscheidung drängen, das schloß die alte Dame aus Bemerkungen und versteckten Drohungen. Altersheim oder Zwangsüberwachung durch diese Person, die mit in die Wohnung einzöge – die alte Dame wußte nicht, was schrecklicher wäre. Sie wußte nur, daß sie daran sterben mußte. Etwas vergeßlich war sie ja wirklich geworden, sie war hinfällig, und nur ihr gewohntes Zuhause und die eigene Art zu leben hielten ihre gebrechliche kleine Person noch notdürftig zusammen. Und darum würde die Metternich heute Mittag einen großen Schluck Essigessenz trinken, wenn sie die Sherryflasche vor dem Nachhausegehen an die Lippen setzte.
‚Sie wollten doch heute die Plumeaus für Ihre Obdachlosen abholen,’ sagte die alte Dame, als der Pfarrer seine Tasche neu schulterte und sich zum Gehen wandte; er werde wie besprochen um zwei Uhr kommen, versicherte er, ‚aber daß Sie mir auch pünktlich sind!’ schärfte sie ihm ein, ‚Frau Metternich geht heute schon um viertel nach zwei, und die muß Ihnen die Sachen ja aus der Truhe holen, denn Frau Stein macht um die Zeit den Keller.’ Schon vor drei Tagen hatte sie der Putzfrau gesagt, daß heute Mittag der Keller dran war. Sie hatte alles bedacht, und der Pfarrer gab sein Wort, rechtzeitig da zu sein. Ein Druck auf den Klingelknopf, ein kurzer Wortwechsel mit der Metternich, mehr erwartete sie nicht von ihm, das genügte ihr, um die präparierte mit der Sherryflasche zu vertauschen. Nur pünktlich musste er kommen. Die alte Dame lächelte wieder. Beihilfe zum Mord, nur für ein paar alte Federbetten.
 
Frau Metternich kam jetzt wieder auf die Bank zugestapft und mahnte schon von weitem zum Aufbruch. Die alte Dame wäre auf dem Heimweg so gern an dem Fachwerkbalken mit ihrem Geburtsdatum vorbeigegangen, aber die Vettel lehnte ein solches Ansinnen ab, sie solle sich nicht schon wieder zu viel zumuten, es sei ohnehin schon eine Schinderei, sie in die Wohnung zurückzuschleppen. Frau Metternich schritt rascher aus, um zu beweisen, wie recht sie hatte. Die alte Dame beeilte sich, demütig zu nicken, damit die Person nicht noch schneller ging. Es gab wirklich keine andere Möglichkeit als Essigessenz...
 
 
Lesen Sie morgen Teil 2 der Erzählung!
 
© Dorothea Renckhoff – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker