Brunetti trifft eine Entscheidung

Donna Leon - "Schöner Schein"

von Frank Becker
Einträgliche Geschäfte

Donna Leons Kritik an den bestürzend ausufernden mafiosen Verhältnissen der italienischen Gesellschaft drückt sich in ihren Romanen um den venezianischen Commissario Guido Brunetti, einen durch und durch kultivierten Ermittler, immer deutlicher aus. Sein Mißbehagen an den Wirtschaft und Politik durchdringenden kriminellen Strukturen überträgt sich bedrückend auf den Leser von Leons Büchern, während der Eindruck, daß es nicht nur in ihren Romanen so ist, täglich dichter wird. Soeben liegt aus dem Diogenes Verlag Brunettis 18. Fall vor, pünktlich zur Nachricht über den Schlag der italienischen Polizei und der Carabinieri gegen eben diese kriminelle(n) Organisation(en) mit ihren in die höchsten Kreise eingedrungenen Krakenarmen. 
 
„Schöner Schein“ ist der vieldeutige Titel des neuen Romans, in dem sich der Commissario bei seinen Ermittlungen in einer Mordsache im Dunstkreis der kalabrischen Müll-Mafia bewegen, sich mit den Spitzen der venezianischen Gesellschaft und ihren Handlangern auseinandersetzen und auch das wechselseitige Mißtrauen gegen einen Major der konkurrierenden Carabinieri überwinden muß. Doch bevor beide ihre Ermittlungsfäden verknüpfen können wird Filippo Guarini, jener Major, erschossen aufgefunden. Nun ist es an Brunetti, den Fall zu klären. Wer hat den Spediteur Stefano Ranzata, der in Mülltransporte verwickelt war, ermordet? Auf wessen Konto geht der Mord an Guarini, der mit einer Spezialeinheit dicht an der Lösung dieses Mordes und der Hintergründe war? Und was hat der undurchsichtige Geschäftsmann Maurizio Cataldo, der den Conte Falier in seine Geschäfte hineinziehen möchte, eventuell damit zu tun? Wie soll sich Brunetti zu dessen Frau Franca Marinello stellen, einer auf ihre Art faszinierenden, höchst gebildeten Dame mit unbeweglichen Gesichtszügen? An ihrem Schicksal machen sich einige der verwirrenden Fäden der vielschichtigen Handlung fest.
 
Donna Leon hat an den Charakteren ihrer Brunetti-Romane gearbeitet, sie in interessanten Nuancen teils geändert, teils entwickelt und in der Handlung neuen Figuren Plätze zugewiesen. So wird durch die eindeutige Zuweisung ihrer Haarfarbe „blond“ die ohnehin zweifelhafte Filmbesetzung von Brunettis Frau Paola eindeutig in Frage gestellt, während sie ein wenig milder mit der Arbeit und den Ansichten ihres Mannes ins Gericht geht. Signorina Elettra wird auffallend häufig mit ihrem Familiennamen Zorzi genannt und damit aus einer gewissen Unpersönlichkeit geholt. Ihre ein bißchen undurchsichtige Position im Polizeiapparat wird wie die Loyalität Brunetti gegenüber abermals gefestigt, und ein zweites Mal in der Reihe läßt Donna Leon bei Elettra deutliche Zuneigung zu einem Menschen zu: Guarini. Aber den bringt Leon sicherheitshalber flugs um. Leon schreibt hier ihre Frauenfiguren fester, während sie eine neue einführt: Commissario Claudia Griffoni, eine elegante Frau in Brunettis Rang, die deutlich häufiger an seiner Seite ermittelt als Ispettore Vianello. Vice-Questore Patta, neben Brunetti immer noch die interessanteste Figur der Roman-Reihe, bekommt bei aller beständigen Eitelkeit beinahe unmerklich liebenswertere Züge zugeschrieben, was den Leser freut.
 
Auch Brunettis Schwiegervater wird ein wenig aus seinem streng abgeschirmten Elfenbeinturm geholt und von seiner mitmenschlichen Seite gezeigt. So äußert  Conte Orazio Falier in einem ratsuchenden langen Gespräch mit Guido Brunetti quälende Lebens-Skepsis, während Brunetti selbst sich eine tiefe Einsamkeit eingestehen muß. Ein wenig zu auffällig hängt Donna Leon die humanistische Bildung des Commissario zum Fenster hinaus, jongliert beinahe penetrant mit Ovid (den er natürlich stets am Bett hat), Cicero, Psellos u.a., läßt Brunetti und Falier über Gemälde alter Meister philosophieren. Da ist ein wenig zu dick aufgetragen und nicht nötig, um von Brunettis Qualitäten zu überzeugen. Die Moral des neuen Romans ähnelt dem Schema Leons: die Kleinen hängt man oder sie werden umgebracht, die Großen werden ein weiteres Mal mehr oder weniger ungeschoren davonkommen, sieht man von persönlichen Katastrophen als moralische Bestrafung ab. Und Brunetti, vor dessen Augen ein weiterer Mord geschieht, muß sich entscheiden...

„Schöner Schein“ ist wieder ein Buch, das man liest, ohne absetzen zu wollen, flüssig erzählt, spannend aufgebaut und mit seinen diesmal im Winter beschriebenen verschwiegenen Calle, abgelegenen Piazze und Kanälen ein weiteres Mal ein Venedig-Sehnsuchtsbuch – Mafia hin, Mafia her. Das macht Donna Leon keiner nach.

Beispielbild

Donna Leon
Schöner Schein

Roman

© 2010 Diogenes Verlag

345 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-257-06745-3
21,90 € (D)

Weitere Informationen unter:
www.diogenes.ch