„Alles“ über das Ruhrgebiet

Ein opulenter Regional-Atlas aus dem Emons Verlag

von Matthias Dohmen
„Alles“ über das Ruhrgebiet
 
Ein opulenter Regional-Atlas
aus dem Emons Verlag
 

D
er Ruhrgebietskrimi ist, seit es den Verlag grafit in Dortmund gibt, eine Marke geworden. Aber trifft das auch auf die Ruhrgebietsliteratur zu, womit Schriftsteller gemeint sind, „die zugleich aus dem Ruhrgebiet und über das Ruhrgebiet geschrieben“ haben?
Jawohl, sagt der Literaturwissenschaftler Dr. Dirk Hallenberger in dem opulenten Ruhratlas, beschreibt die Szene und verortet literarische Texte auf einer großen Karte, die insgesamt 53 Titel jeweiligen Orten zurechnet. Zu ihnen gehören Hans Marchwitza und Paul Zech (1930er Jahre), Franz Josef Degenhardt, Max von der Grün und Erika Runge (1945 bis 1974), Jürgen Lodemann und Klaus-Peter Wolf (1975 bis 1989) sowie Jo Pestum und Frank Goosen. Benannt wird auch die „Dortmunder Gruppe 61“, durch das Rost ist unverständlicherweise der mittlerweile hochbetagte Dortmunder Josef Reding gefallen.
 
Wo wir gerade bei den schönen Künsten sind: Eine große Karte nennt die Standorte der „Kulturlandschaft Ruhr“ mit Theater, Kleinkunst, Oper und Museen, eine weitere die publizistische Landschaft des Reviers. Und das sind nur drei der in einigen Fällen sogar aufklappbaren Karten, die das Buch zu einem modernen „Dierkes“ werden ließen. Für seine Atlanten ist der rheinische Verlag bekannt: für Köln existieren zwei (beide vergriffen), einer für Düsseldorf (nicht mehr im Handel) und weitere für Leipzig, München und Nürnberg sowie Luxemburg.
Jetzt eben – pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr „Ruhr 2010“ – das Gebiet zwischen Xanten und Hamm, Haltern und Schwelm mit den Großstädten Duisburg, Oberhausen, Mülheim, Essen, Gelsenkirchen, Bochum, Dortmund und Hagen.
Der Begriff Atlas darf nicht in die Irre führen: Die einzelnen Wortbeiträge stehen sogar im Vordergrund. Auf der Internetseite des Börsenvereins des deutschen Buchhandels ist völlig zu Recht von einem „großformatigen, äußerst informativen Bildband“ die Rede, „der die vielfältigen Lebenswelten, die Kriegsschäden und die zerklüftete Region im Strukturwandel nachzeichnet – und dabei den Weg in die Zukunft aufzeigt“, bestens geeignet „zum Erforschen, Erkennen und Nachschlagen“.
Fünf Herausgeber, darunter der Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Horst A. Wessel, über 70 Autorinnen und Autoren, ein beeindruckendes Kartenmaterial, zahlreiche historische und viele aktuelle, mitunter großformatig in Szene gesetzte Fotos und Faksimiles, Quellen- und ausführliche Literaturangaben, ein extraordinäres quadratisches Format und ein Gewicht, mit dem man nicht nur Fliegen totschlagen kann: Der Ruhratlas sprengt viele Rahmen.
 
Er ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. In der „Region im Überblick“ werden die Grenzen benannt, die das Ruhrgebiet oftmals sehr willkürlich durchziehen, sowie die wirtschaftlichen, verkehrlichen und naturräumlichen Potentiale beschrieben. Die „Stationen regionaler Identität“ werden anhand geschichtlicher Momente zwischen Märzrevolution 1920, Ruhrbesetzung und Ruhrkampf, dem Niedergang der Montanindustrie und den großen Kämpfen um die Henrichshütte in Hattingen und das Krupp-Hüttenwerk Rheinhausen, schließlich der Aneignung der Industriekultur abgearbeitet. Am vorläufigen Ende steht das „Ruhrgebiet – ein starkes Stück Deutschland“.
Auf rund 60 Seiten „formiert sich“ die Industrieregion, wobei auch an diesem Punkt der Bogen weit gespannt ist und sowohl die „Gartenstadt“ Ruhr als auch die Baukunst der 1920er Jahre umfaßt. Sehr lesenswert darüber hinaus sind die Artikel über das „Ruhrgebiet im zentralistischen ‚Führer‘-Staat“ und über die Zwangsarbeiter in brauner Zeit.
In der Mitte des Kompendiums wird die „Region im Strukturwandel“ beleuchtet. Stichworte sind hier Zechensterben und Hochofenstandorte, Mitbestimmung und Gewerkschaften, die Hochschullandschaft und – pars pro toto – die Geschichte des Großunternehmens Mannesmann.
„Vielfältige Lebenswelten“ ist das vierte Hauptkapitel überschrieben. Dazu zählen die Kultur, die Glaubensgemeinschaften, großflächige Stadtumbauten in Bochum, Dortmund, Duisburg und Herne sowie die Sportlandschaft und schließlich die kommunalen und Landtagswahlen. Ein eigener Beitrag widmet sich dem „Mythos vom Schmelztiegel“ („Migration und Integration“).
 
Schließlich befindet sich der „Pott“ „… auf dem Weg in die Zukunft“ mit den demographischen Herausforderungen, neuen wirtschaftlichen Kompetenzen, den Trends der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung, dem organisatorischen Gerüst Regionalverband Ruhr und der eher virtuellen „Metropole Ruhr“.
Sechs Szenarien werden am Ende für „2035 und danach“ entworfen: Mit dem Ende des Steinkohlenbergbaus gelte es, eine „neue Identität“ zu schaffen, „die die industriellen Traditionen nicht verleugnet, aber in die Zukunft weist“. Gewiß eine Aufgabe, die eines Herkules bedarf. Wenn er sich geschickt anstellt, hilft ihm Atlas ja.
 

Atlas der Metropole Ruhr - Vielfalt und Wandel des Ruhrgebiets im Kartenbild
Achim Prossek, Helmut Schneider, Burkhard Wetterau, Horst A. Wessel, Dorothea Wiktorin (Hg.), 224 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen, € 49,80, ISBN 978-3-89705-691-6
 
Weitere Informationen unter: www.emons-verlag.de

Redaktion: Frank Becker