Als Polizisten noch Schutzleute waren

Siegbert Meerfeld - "Die Alte Hauptwache"

von Frank Becker
Als Polizisten
noch Schutzleute waren


Siegbert Meerfeld erzählt aus (s)einem ganz normalen
Essener Polizisten-Alltag der 60er Jahre



Erinnern Sie sich daran, daß es einmal - oh ja, fast ein halbes Jahrhundert ist es her - eine Zeit gab, in der Polizeibeamte in der Öffentlichkeit hohe Anerkennung genossen, der Streifenpolizist auf der Straße freundlich gegrüßt wurde und sich des Respekts der Bevölkerung sicher sein konnte. Damals waren die Polizisten noch Schutzleute im allerbesten Sinn und wurden auch als solche wahrgenommen. Das ist heute leider ein wenig anders geworden. Verfehlte Politik und veränderte soziale Strukturen tragen die Schuld daran, nicht die Polizeibeamten, die ihren aufreibenden und immer gefährlicher werdenden Dienst mit der gleichen Hingabe tun, wie es

Linnich, 14. Hundertschaft
Foto © Archiv Musenblätter
Siegbert Meerfeld (1941-2008) es von den 1960er Jahren an im Schutzbereich IV
der Essener Schutzpolizei, auf der Alten Hauptwache am Stoppenberger Platz getan hat.

Von seinen ersten Tagen und Einsätzen im Einzel-, Streifen- und Funkstreifendienst erzählt der Schutzmann vom alten Schrot und Korn, von seinen Kollegen und ihren Eigenheiten - vor allem aber von dem, was ihm als jungem Schupo im täglichen Dienst begegnet ist. Detailliert beschreibt er - und da schimmert der preußische Beamte durch - Uniformen und die Ausrüstungsgegenstände, die man als Polizist damals mit sich herumschleppen mußte, zu einer Zeit, als nur die Streifenwagen mit Funksprechgeräten ausgerüstet waren. Niemand hätte jemals daran gedacht, daß Jahrzehnte später jeder Polizist ein (wohlgemerkt privates) Mobiltelefon besitzen und bei sich haben würde. Wenn das damals jemand dem jungen Siegbert Meerfeld oder einem seiner Kollegen hätte weismachen wollen, hätten die ihn womöglich in eine Ausnüchterungszelle gesteckt. Tempora mutantur! Wenn man sich allerdings gleichzeitig klar macht, daß auch die Polizisten heute (2010) dienstlich noch mit den gleichen analogen Handfunkgeräten ausgestattet sind, die in den 70er Jahren eingeführt wurden und die etwa ein Kilo wiegen, während jeder Ganove über modernste digitale Elektronik verfügt, muß man den Einsatzwillen der heutigen Schutzmanns-Generation (seit vielen Jahren gehören ja auch Frauen dazu) besonders würdigen.

Aber zurück zu Siegbert Meerfeld und seinen Erlebnissen, die sicher für jeden der damals nach der

Linnich, POM G(rezian)
Foto © Archiv Musenblätter
Grundausbildung an einer der nordrhein-westfälischen Polizeischulen in den "Einzeldienst" versetzten jungen Männer
exemplarisch sind. "Von der Pieke auf" lernten die angehenden Schutzleute ihren Beruf. Einem Jahr intensiver Grundausbildung mit vielen juristischen und praktischen Fächern und militärischem Schliff folgten zwei kasernierte Jahre bei der Bereitschaftspolizei, ein Lehrgang bei der Essener Landespolizeischule für Technik und Verkehr und ein halbjähriger Abschlußlehrgang zur "Anstellung". Trefflich beschreibt Meerfeld Alltag und Kasernenton seiner Ausbildungszeit in Linnich bei der 14. Hundertschaft der BPA IV und ihrem berüchtigten "Spieß" POM G(rezian), dessen Lieblingsmarschlied "Ein Heller und ein Batzen" war. Das Stubenleben in der Einöde, Geländeausbildung am MG 42, Schikanen, Stubenkontrollen und Strafappelle, schließlich die Entlassung in die relative Freiheit der Bereitschaftspolizei. Zum guten Ende der Ausbildung dann die Versetzung in den Einzeldienst irgendwo in NRW. Wer Glück hatte, wurde an einen Wunschstandort versetzt. Der Gelsenkirchener Siegbert Meerfeld hatte Glück, er kam nach Essen, seine (zweite) Wahl. 

Auf der Alten Hauptwache am Stoppenberger Platz im Essener Norden,
nur einen Katzensprung von

1967 - Foto © Archiv Musenblätter
seiner Heimatstadt entfernt, nahmen ihn erfahrene Kollegen unter ihre Fittiche und brachten ihm bei, was man wirklich wissen muß, wenn man im täglichen Dienst auf der Straße steht und mit dem fertig werden muß, was einem Schutzmann Tag für Tag begegnet, wenn man auf Fußstreife oder mit einem "Gruga"-Wagen (so heißen noch heute die Funkstreifen in Essen) unterwegs ist. Denn das vermittelt auch die beste theoretische Ausbildung nicht. Er bekam es also mit Verkehrsunfällen, Schlägereien, Einbrechern und nackten Huren, Besoffenen, Familienstreitigkeiten und Hilflosen zu tun, lernte
türkische Gauner, jugoslawische Führerscheinfälscher und deutsche Schläger kennen. Und er begegnete mehr als einmal dem Tod, etwas, das auch ein Polizist, zumal ein junger, nicht so aus den Klamotten schüttelt. Meerfeld erzählt von seinem erschütternden ersten Leichenfund, einem Selbstmörder, der sich vor einen Zug geworfen hatte. Heute unvorstellbar, daß der junge unerfahrene Polizist mit einer Plastiktüte und ohne Handschuhe losgeschickt wurde, die Leichenteile einzusammeln. Aber damals war das eben so. Psychologie war ein Fremdwort, viele alte Polizisten hatten noch den Krieg als Soldaten und die Jahre danach als Gefangene erlebt. Meerfeld lernte - und wurde jedesmal "ein Stückchen mehr ein Schutzmann".

Authentisch in bewußt einfachem Ton gehalten ist das Buch ein spannendes und gelegentlich amüsantes Zeitdokument, das nicht nur jeden Essener und jeden Polizisten interessieren sollte, sondern alle, die wissen wollen, wie die einfachen Menschen in den 60er lebten, was außerhalb der bürgerlichen Norm im Alltag geschah und wie sich seither das Gesellschaftsbild verändert hat.


Siegbert Meerfeld - "Die Alte Hauptwache" - Ein Schutzmann erzählt von der Polizeiarbeit im Ruhrgebiet der 60er Jahre
© 2008 Verlag Henselowsky Boschmann, 183 Seiten, kartoniert, 8,01 €, ISBN 978-3-922750-82-6


Weitere Informationen unter:  www.ruhrig.de