Der Mont Ventoux

Auf den Spuren Petrarcas

von Jörg Aufenanger

Foto © Klaus Ferber / Pixelio
Der Mont Ventoux
 
 
Urplötzlich stand er uns nach einer scharfen Kurve vor Augen und wir staunten ihn an. Ein kalkweißes, kahles Ungetüm richtete sich da in dieser sonst nur leichthügeligen, frühlingsfarbenen anmutigen Provence auf. Der Mont Ventoux. Wie viele Geschichten hatten wir über diesen mythischen Giganten gelesen, den als erster der Dichter Francesco Petrarca am 26. April im Jahr 1336 bestiegen hat. Jährlich treffen sich an diesem Jahrestag einige Dutzend Verehrer des Dichters, um es ist ihm gleichzutun.
 
Von Avignon kommend machten wir kurz in Carpentras Halt, wo Petrarca einst lebte, der den Berg immer vor Augen hatte, der ihn anlockte. Den Berg unablässig im Blick fahren wir weiter und gelangen nach Malaucène. Dort soll von der Nordseite her der Aufstieg morgen früh beginnen, so wie es der Dichter beschrieben hat. Am platanengesäumten Marktplatz können wir uns lange nicht für eins der beiden bescheidenen Hotels entscheiden, wählen schließlich das „L’Origan“, sind zufrieden und laufen noch vor der Dämmerung durch den 2000-Seelenort mit seinen uralten Stadtmauern und Forts, der um 1300 auch Papstsommerresidenz war. Aus der Zeit datiert auch die Kirche der Frührenaissance, die eine Orgel mit einer Konsole aus vergoldetem Holz besitzt und eine 42 Meter lange Steinbank und von deren Turm wir weit in die Landschaft schauen, die Jean Giono mal „von Zärtlichkeit eingehüllt“ genannt hat. Der Berg hat sich unserem Blick entzogen, man sieht ihn von Malaucène aus nicht.
 
In aller Frühe machen wir uns auf den Weg, tragen feste Kleidung und feste Schuhe, ist der Mont Ventoux doch im April noch teilweise schneebedeckt. Als Petrarca „diese schroffe und unzugängliche Felsmasse“ besteigen wollte, warnte ihn ein Hirte: „Reue, Mühsal und einen von Felszacken und Dornensträuchern zerfetzten Leib und Mantel“ werde es ihm kosten. Wir sind also gewarnt, doch heute führt immerhin ein gekennzeichneter Weg hinan. Noch wandern wir durch Weingärten und unter Obstbäumen, genießen die Morgensonne, doch bald wird der Weg steil und eng, die Mühe beginnt. Wir schweigen und ein jeder ist auf sich gestellt, kämpft mit sich, denkt an dies und jenes zurück. Der

Francesco Petrarca
Atem geht schwer. „Wollen ist wenig, Leidenschaft erst führt Dich zum Ziel“, lesen wir bei Petrarca, als wir Rast machen, an Felsen gelehnt. Das Wollen würde uns in der Tat eher zurückkehren lassen, doch wir wissen, wir werden belohnt. Der Hirte hielt Petrarca für verrückt. Einen hohen Berg zu besteigen, das war Frevel, Gott so nahe sein zu wollen. Dornen reißen uns die Hose auf und die Hände blutig. Wir schnaufen. Wir sind verrückt, verfluchen Petrarca, der uns hierhin gelockt hat. Nach etwa fünf Stunden erblicken wir ihn endlich: den Gipfel, doch der Weg ist noch weit, führt durch ein Geröllfeld, fahler kann es auf dem Mond auch nicht sein. Kein Baum spendet uns Schatten, keine Pflanze Trost. Wir umgehen Schneefelder, die die Frühlingssonne nicht hat schmelzen lassen. Jeder Schritt ist Marter, doch aufgeben gilt nicht mehr.
Geschafft. „Zuerst stand ich durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich“, notierte Petrarca. Wir halten den Atem an, sind betäubt, nahezu erschüttert von diesem unvergleichlichen Panorama: Im Süden das Mittelmeer, im Nordosten die Alpen, unter uns das Flußbett der Rhone. Winzig habe er sich plötzlich in dieser Weite gefühlt, sein Leben in Frage gestellt, meinte der Dichter und habe beschlossen, sein „flüchtiges Leben“ zu ändern. Doch zu solchen Gedanken kommen wir nicht, denn wir sind nicht allein hier oben, wie Petrarca damals. Auto- und Motorradtouristen, die den schneefreien Aufstieg von Süden her genommen haben, belagern das Gipfelplateau. Sie haben keine Mühe auf sich nehmen müssen.
 
Bergsteigen ist heute zum alltäglich möglichen Erlebnis geworden. Aber der Mont Ventoux hat es in sich, er ist einzigartig und fordert den ganzen Menschen. Der Philosoph Roland Barthes nannte ihn „den vollkommenen Berg, einen Gott des Bösen, dem man sich opfern muß, der keine Gnade kennt“. Keine Gnade hat er auch mit den Radfahrern der Tour de France gehabt. Der Engländer Tom Simpson ist 1967 beim Anstieg gestorben, der Schweizer Ferdi Kübler hat, am Gipfel angelangt, seine Karriere beendet.
Petrarca war der Erste, der den Aufstieg gewagt hat und so nennt man ihn auch den „ersten Alpinisten“. Seitdem haben ihn Unzählige bestiegen, der Insektenforscher und Literaturnobelpreisträger Jean Henri Fabre, auch der Homer der Insekten genannt, mehr als dreißig Mal, wollte ihm sein Geheimnis entreißen und beschreibt in „Das offenbare Geheimnis“, wie der Mont Ventoux sich gegen jeden wehrt, der ihn erklimmen will.
 
Wir haben ihn jedenfalls bezwungen und nach der Rast zieht es uns schnell zurück, zumal heftiger

Foto © tokamuwi / Pixelio
Wind aufkommt und der Mont Ventoux, der Windumtoste, seinem Namen Ehre macht. Ein letzter Rundblick in diese unendliche Weite und wir steigen hinab, denken an Petrarcas Satz, keiner komme von diesem Berg so zurück, wie er hochgestiegen ist.
Kurz unter dem Gipfel begegnen wir noch eine Gruppe englischer „Petrarcawanderer“ mit dem Buch in der Hand. Der Abstieg ist kaum weniger mühsam als der Aufstieg, aber wir sind ja jetzt laut Petrarca andere Menschen und so gelangen wir beschwingt hinunter. Völlig erschöpft erreichen wir Malaucène, ruhen im Hotel, bevor wir zu „Lisette“ gehen.
Hier trifft man sich zu köstlicher provencalischer Küche und Musik. Hier lassen wir es uns gut gehen. Nach so einem erfüllten, geglückten Tag.
 
 
Informationen:
Office de Tourisme de Malaucène
Tel. 0034.90.65.22.59
Hotel l’Origan Malaucène
Tel. 0034.90.65.27.08
Maison de la France
Tel.  09001-570025
 
Zur Lektüre :
Petrarca : Die Besteigung des Mont Ventoux
Reclam Verlag 2,40 Euro
 
 
Dieser Artikel erschien zuvor in der Frankfurter Rundschau
Redaktion: Frank Becker