Rückseitenwetter

von Friederike Zelesko

Foto © Rainer Sturm - Pixelio
Rückseitenwetter  

Die Temperatur ist gesunken, der Wind weht aus Nordwest.
Die Schienenarbeiter ziehen um sechs Uhr abends ihre Wattejacken an, schultern das Werkzeug und gehen erleichtert nach Hause. Sie setzen sich an die gedeckten Tische, schicken die Kinder früh zu Bett, sie sehen ihre Frauen lüstern an und gehen zum Kartenspiel. Sie wissen nichts vom Gesang der Schienen, vom Klang der Ferne, von den freudigen Erwartungen aller Reisenden. Schienenarbeiter singen nicht.
    
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enn die frierenden Hände die schwarz geölten Bohlen anfassen, sehen die Schienenarbeiter den Himmel an. Sonnenschein und blauer Himmel trügen, sagen ihre Blicke. Und wenn sie die schweren Muttern über die Schrauben ziehen, die Kraft ihrer Gedanken in die Sicherheit der Reisenden hineindrehen, sind sie froh, daß das Wetter gehalten hat. In den Gedanken der Schienenarbeiter ist kein Platz für andere Gegenden. Manchmal erleben sie eine regelrechte Schlechtwetterlage, die sie bis auf die Knochen trifft. Auch wenn sie ihre Wattejacken anhaben, die Mütze über die Ohren ziehen, werden die Knochen nie mehr ganz warm. Nur beim Kartenspiel, wenn sie ein gutes Blatt haben, die Rückseite der Spielkarte auf den Stammtisch knallen, einen Schnaps auf ihr Glück trinken, wird ihr Gesicht rot und heiß. Es ist die Rückseite der Spielkarte, die die Vorstellungskraft der Schienenarbeiter auf Touren bringt.
 


© Friederike Zelesko – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010