Auslandskorrespondent im eigenen Land

Peter Nöldechen - „Geteilte Erinnerungen“

von Friederike Hagemeyer
Auslandskorrespondent
im eigenen Land
Peter Nöldechen legt
„Geteilte Erinnerungen“ vor
 
Von Friederike Hagemeyer
 
Zwanzig Jahre Mauerfall  -  eine Flut von DDR-Erinnerungsliteratur, Zeitzeugeninterviews, Autobiographien ehemaliger Macher in Ost und West sowie Berichten über beschädigte Lebensläufe der Opfer füllt die Zeitungen und spült in die Buchhandlungen. Alle diese Veröffentlichungen  -  so informativ sie auch sein mögen  -  haben einen entscheidenden Nachteil: sie sind aus der Rückschau, im Wissen um die Entwicklungen nach dem Untergang der DDR entstanden, sozusagen mit dem „besserwisserischen Blick“ (Jens Reich, S. 8) der Gegenwart.
Nicht so die „Geteilten Erinnerungen“ von Peter Nöldechen, in denen er eine Auswahl seiner Artikel aus sechzehn Jahren Tätigkeit als DDR-Korrespondent der „Westfälischen Rundschau“ präsentiert. Aus Nöldechens Beiträgen „von damals“ spricht uns die vergangene Zeit direkt an. Wer die Jahre zwischen 1973 und 1989 miterlebte, fühlt sich beim Lesen zurückversetzt; das alte längst vergessen geglaubte „Ost-West-Gefühl“ überkommt einen und fast glaubt man, den spezifischen DDR-Geruch wieder in der Nase zu haben. Und noch etwas geschieht beim Lesen: als Miterlebender glaubt man selbstverständlich, sich an Details erinnern zu können; man wird eines Besseren belehrt und es dämmert die Erkenntnis, daß doch manche Einzelheit in Vergessenheit geriet.
 
Alltag in der DDR
 
Nöldechen erzählt seinen Lesern „Was dort, warum vor sich geht und wie die Leute dort lebten“ (S. 12). Seine Themen reichen von der Schule („Ganz groß geschrieben: Ordnung und Disziplin“, 6/7.4.1974, S.17–19), über Geburtenregelung („DDR-Erfahrungen mit der Fristenlösung“, 20.4.1974, S. 20–22), Gleichberechtigung der Frauen („SED meidet Begriff Emanzipation“, 3.3.1982, S. 127–131), Urlaub („Urlaub auf Hiddensee  -  Idyll nach Art der DDR“, 27.8.1977, S. 56–57) bis hin zur großen Politik und zu Wirtschaftsfragen. Immer wieder und seit Beginn der 1980er Jahre immer häufiger kommt es zu Versorgungsengpässen, ein Thema, das den Alltag jedes DDR-Bürgers prägte. In Nöldechens Berichten ist diese Entwicklung gut zu verfolgen. Da geht es um die Bereitstellung von Obst und Gemüse für die Bevölkerung („Ein Land lebt aus Schrebergärten“, 18.10.1975, S. 20–30), das Problem fehlender Arbeitskräfte („Do it yourself“ nach Staatsplan“, 4.11.1975, S. 30–31), den Rohstoffmangel („Lumpen, Eisen, Glas und Papier  -  DDR bläst zur Altmaterialjagd“, 25.7.1980, S. 101–102; „Das Zauberwort heißt Sero: DDR läßt nichts verkommen“, 28.7.1984, S. 161);  gegen Ende der DDR wird die Energieversorgung immer komplizierter, z.B. die Braunkohle („Rund um Leipzig verschwinden Orte von der Landkarte“, 6.11.1982, S. 132–133) oder die Kernenergie („DDR hält an Atomenergie fest  -  trotz Tschernobyl“, 16.6.1986, S. 180–182) vor allem aber die Winter stellen die DDR-Energiewirtschaft vor ständig wachsende Schwierikeiten („Strom abgedreht – Kindergärten schließen“, 23.1.1987, S. 185–186).
 
Die DDR und die deutsche Geschichte
 
Seit den Anfängen der DDR ließ die offizielle  Ideologie „nur den Teil des historischen Erbes“ gelten, „zu dem wir uns bekennen, aus dem wir Vorbilder und Anstöße für unser heutiges Leben beziehen“, und weiter hieß es, die DDR sei die „Heimstadt (sic) aller großen, progressiven, humanistischen und revolutionären Ideen, Kämpfe und Charaktere der deutschen Geschichte“ (S. 110, rechte Spalte). Mit anderen Worten: die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Vorläufer paßten in die DDR-Staatsideologie, den Rest der Geschichte überließ man dem Klassenfeind im Westen. Gegen Ende der 1970er Jahre fängt die strikt negative Bewertung beispielsweise Preußens als Hort des „militaristischen Junkertums“, aber auch die Einstufung Martin Luthers als „Fürstenknecht“ und „Verräter am revolutionären Kampf der Bauern“ an zu bröckeln. Hintergrund: es stehen Jubiläen bevor; 1981 soll in Berlin West eine große Preußenausstellung stattfinden und 1983 jährt sich Luthers Geburtstag zum 500. Mal. Den DDR-Ideologen bleibt nichts anderes übrig als zu reagieren.
Sichtbares Zeichen der „zweifellos ganz oben, vom SED-Politbüro ideologisch abgesegneten Annäherung des kommunistischen deutschen Staates an Preußen“ (S. 109, linke Spalte) ist im Januar 1981 die Wiederaufstellung des Reiterstandbildes Friedrichs des Großen an seinem alten Platz Unter den Linden in Berlin  -  „im Zentrum des kommunistischen Neu-Preußen“ (S. 108, linke Spalte). Der Zeitpunkt ist nicht zufällig, denn Honecker gelingt es, der für den Herbst des Jahres im Westteil geplanten Ausstellungseröffnung eine Zeit lang die Schau zu stehlen.
Beim Bemühen um eine neue Lutherinterpretation hilft den Ideologen ein „dialektischer Kunstgriff“, den die „marxistischen Historiker glatt hätten erfinden müssen, wenn sie ihn nicht in ihren Archiven gefunden hätten“. Kurt Hager, später SED-Chefideologe, hatte schon 1952 davor gewarnt, Luther nur als Bauernverräter zu betrachten, dabei könne dessen Bedeutung für die „Schaffung des Nationalbewußtseins verloren gehen“. (S. 138, linke Spalte). Damit ist der Weg nun frei, um Luther an seinem Geburtstag „vom Buhmann zum großen Vorbild für die ganze Nation“ ( S. 137) mutieren zu lassen.
 
Berichterstattung aus der DDR
 
Wie war es eigentlich, dieses geteilte Leben als Korrespondent, mit Familie und Wohnung in Berlin West, dem Büro in Berlin Ost und dem täglichen Weg durch die Mauer? Die Redaktion der Westfälischen Rundschau hatte ihrem Berichterstatter den wohlgemeinten Rat mit auf den Weg gegeben: „Ständige Berichte sind wichtiger als einmalige Sensationen“ (S. 12). Das sollte wohl dem Entzug der Arbeiterlaubnis und einer Ausweisung vorbeugen. Keine übertriebene Befürchtung, wie die Ausweisung von Mettke (Der Spiegel) 1975 und Loewe (ARD)1976 beweist. Es muß ein ständiger Balanceakt zwischen Behinderung der freien Berufsausübung durch Partei- und Staatsführung der DDR und der im Westen üblichen und erwarteten kritischen Berichterstattung gewesen sein. Da mußte mancher Kniff her, um die wahren Informationsquellen vor den DDR-Behörden zu verschleiern und vor Unannehmlichkeiten zu schützen. Wie die DDR-Repräsentanten die westlichen Journalisten auch noch nach fünfzehn Jahren sahen, beschreibt Nöldechen so: „Zwischen Abwehr und Interesse, zwischen Distanz und Nähe sieht die DDR uns Korrespondenten“(S. 206, rechte Spalte).
 
Kluge Auswahl
 
Aus der Fülle seiner Meldungen, Kommentare, Glossen, Interviews, Serien und großen Geschichten hat Peter Nöldechen eine kluge Auswahl getroffen. Die Fakten in seinen Artikeln sind bis ins kleinste Detail präzise recherchiert und   -  wann immer möglich  -  mit Zahlen untermauert. Er schreibt sachlich und nüchtern in klaren kurzen Sätzen; das liest sich gut. Nur eine kleine Anmerkung sei erlaubt, ein etwas ausführlicheres Inhaltsverzeichnis zur Orientierung wäre hilfreich gewesen. Was aber bleibt ist, daß dieser Band ein „wesentliches Geschichtstagebuch“ (Jens Reich, S. 7) darstellt, eine historische Quelle zur Alltagsgeschichte der DDR, die in ihrer Frische auch Leser ansprechen dürfte, die die DDR nicht mehr kennen gelernt haben. Dem Buch ist jedenfalls eine große auch jüngere Leserschar zu wünschen, manches eingefahrene Vorurteil über „die Ossis“ könnte aufgeweicht werden.
 
Peter Nöldechen „Geteilte Erinnerungen“ – Berichterstattung aus der DDR 1974-1989,  © 2009 callidus. Verlag wissenschaftlicher Publikationen, 240 Seiten, kartoniert 18,90 €
 
Weitere Informationen unter: www.callidusverlag.de