Über die Rettung der Zeit

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Über die Rettung der Zeit
 

Kürzlich wurde ich überholt. Ich saß auf meinem Fahrrad und rollte nach Hause. Ich hörte hinter mir schon lautes Johlen und rechnete mit dem Schlimmsten. Ich ahnte, daß wieder die Nachbarjungs eine Gelegenheit suchten, mich bloßzustellen. Konnte dies wahr sein? Mußte ich immer dann den Nachbarjungs begegnen, wenn es um Leben oder Tod ging und dieses von meinem sturen Durchhalten ab­hing? Ich war vorher bei Sievers gewesen und hatte mir keine »Zeit« gekauft, weil sie, obwohl es Donnerstag war, noch nicht erschienen war. Frau Sievers vermutete, daß es an der am Sonntag stattgefundenen Bundestagswahlliegen könnte, aber wir hatten doch alle rot/grün gewählt und die »Zeit« hatte doch bestimmt nicht schon unter der neuen Regierung zu leiden, oder? Trotzdem herrschte Unsicher­heit im Markantmarkt, und ich entschied mich durch ein Gelübde, die Herausgabe der »Zeit« für diese Wahlperiode zu sichern. Ich wollte durch entschiedenes Handeln oder, besser noch, durch entschiedenes Nichthandeln die »Zeit« retten.

Der Markantmarkt lag etwas höher als mein Miet­haus, in dem ich das leicht eingeschränkte Vergnügen hatte zu wohnen. Dieses Vergnügen war leicht eingeschränkt, weil halt die Nachbarjungs keine Gelegenheit ausließen, um mich in meiner Autorität als Erwachsener in Frage zu stellen. Nun stand ich also vor dem Markantmarkt und ver­suchte, das regelmäßige Erscheinen der »Zeit« zu sichern, indem ich mir selbst die Freiheit nahm, die Angewohn­heiten der Zeit in Frage zu stellen. Ich schwor beim Leben von Frau Sievers, daß ich es schaffen würde, mit einem einmaligen Anschwung, ohne danach die Pedale erneut zu benutzen, bis zum Eingang meines Miethauses zu rollen. Ich war bereit. Ich konzentrierte mich auf Wichtiges und Erhabenes. Ich dachte zum Beispiel an den Mitherausge­ber der »Zeit«, Helmut Schmidt, und wie er dieses Pro­blem regeln würde, ohne einmal an seiner Zigarette ziehen zu müssen. Ich trat mit diesem Bild gestärkt in die Pedale und sauste los. Ich sauste wie eine Rakete vorbei an dem türkischen Gemüsemarkt und der spinnenbehangenen Te­lefonzelle der Telekom. Ich rollte vorbei an dem kleinen Stromkasten und dem großen Stromkasten, auf denen je­mand »Sex« geschrieben hatte, ohne diesen Wunsch näher auszuführen. Ich spürte, daß der Weg abschüssig genug sein konnte, um das Erscheinen der »Zeit« für die nahe Zukunft wahrscheinlich zu sichern. Ich ließ den Astern­weg links liegen und die Cheruskerstraße rechts. Ich über­holte Frau Gismar mit ihrer Gehhilfe und Herrn Lothar mit seinen Enkelkindern. Natürlich wurde ich mit der Zeit langsamer, aber nur der Bezwinger über Zeit und Raum verdiente es, als Retter aufzutreten. Ich arbeitete mit Tricks. Das Herunterfahren vom Bürgersteig zum Beispiel erneu­erte meinen Schwung. Ein heftiges Vorwärtsstoßen mit dem Körper schien das Fahrradfahrgestell nachkommen zu lassen. Ich hatte nur noch 15 Meter bis zu mei­ner Einfahrt, als ich dieses Kindergrölen hörte. Das grausame Johlen traf mich, als mein Rad trotz aller Tricks nur noch halbherzig mein Gelübde unterstützte. Ich wackelte mit meiner Kriechgeschwindigkeit neben dem Bürgersteig und versuchte verzweifelt, das Tempo durch Mitschwin­gen meiner Beine zu erhöhen. Zugegeben, das Bild, das ich abgab, muß wenig heldenhaft gewirkt haben, aber ich war in einer Mission unterwegs und konnte nicht auf solche Nebensächlichkeiten achten. Die Nachbarkinder wollten mir zeigen, in welcher Geschwindigkeit sie nach Hause radeln konnten, so als gewinne man dadurch auch mehr Zeit. Lässig überholten sie mich auf ihren Kinderrädern und zeigten mir eine lange Nase. »Strampelhampel, Stram­pelhampel«, schrien sie. Ich durfte mich davon nicht beein­drucken lassen. Stur hielt ich an meiner Geschwindigkeit und meinem Fußhampeln fest und widerstand dem Drang, meinem Tempo durch unlauteres Strampeln nachzuhelfen. Ich sollte belohnt werden. Tatsächlich rollte ich nicht nur winkend am Haus der Nachbarjungen vorbei, sondern er­reichte auch meine Einfahrt souverän, ohne noch einmal die Pedale benutzt zu haben. Ich war zufrieden. Ich hatte an dem Tag nicht nur die »Zeit« gerettet, ich hatte auch bewiesen, daß die Lebenszeit eines jeden Menschen ein zu hohes Gut ist, um sie in scheinbar allgemeingültigen Wettrennen gegeneinander auszuspielen. Ich bin mir nicht sicher, ob Heldentum und Standhaftigkeit heutzutage noch bei Siegern anzutreffen ist. Auch Vögel gehen kurze Stre­cken meist zu Fuß. Der, der schneller am Ziel ist als der andere, ist dort zwar als Erster, aber gerade die Ersten ha­ben gewisse Pflichten zu übernehmen, die eigentlich eines Gewinners unwürdig sind.

Daß Autorennmeister sich nach jedem Sieg mit Cham­pagner bespritzen müssen, ist doch als neiderzeugendes Bild längst überholt. Ein Sieger trinkt keinen Champagner, ein Sieger serviert ihn und muß dann weiter die Welt er­retten. Während die Nachbarjungen also noch vom Siegen erschöpft am Mittagstisch saßen und diesen nicht eher ver­lassen durften, bis auch der Letzte alles aufgegessen hatte, lag ich relaxt in meiner Hängematte und verplemperte die Zeit der letzten Woche.


© Erwin Grosche - Veröffentlichung aus dem "Warmduscher-Report" mit freundlicher Genehmigung