Es gibt ja Leute, die kennt man...

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Es gibt ja Leute, die kennt man...
 
Es gibt ja Leute, die kennt man, und kennt man, und kennt man, und. . . kennt sie doch nicht, das ist ganz schlimm, vielleicht kennen Sie das aber auch, diese peinlichen Situationen hat ja jeder von uns schon mal mitgemacht, durchgemacht, durchgestanden: Also, ich stehe auf einem Bahnsteig, plötzlich werde ich von ei­nem Herrn begrüßt, der sagt:
"Guten Tag, wie geht's, auch mal wieder unterwegs, was macht die Arbeit?"
"Ooch,", sage ich, "es läppert sich so."
In Wirklichkeit denke ich, Mensch, wer ist das bloß, wo stecke ich den Mann hin, keine Ahnung.
Und der andere plappert munter drauflos, er müsse jetzt zu einer Besprechung nach Düsseldorf, den Kindern ginge es gut, der Frau Gemahlin dito, man ist zwar etwas dicker geworden, aber was soll's. Menschenskind, denke ich, wer ist das bloß? Man will sich ja schließlich nicht blamieren und unhöflich sein. Ist das vielleicht der Dr. Armbruster, den ich mal vor sie­ben Jahren auf dieser, na, auf dieser Bundesjugend­plangeschichte getroffen habe? Ich frage darob gaaaanz vorsichtig:
"Ach ja, wissen Sie noch, damals in Regensburg, das waren noch Zeiten?!"
Keine Reaktion.
 
So was ist entsetzlich, kann ich Ihnen sagen. Dann sagt der Mann: "Ich bin jetzt damit beschäftigt, der ganzen Sache mehr Kontinuität zu geben."
Also, das sind Sätze, mit denen ich überhaupt nichts anfangen, geschweige denn den Mann ausmachen kann.
Und da fällt mir plötzlich ein, richtig, klar, das ist ja der Hans Peter Schmalenbach, mit dem ich mal bei einem Ernährungsmittelkongreß zu tun hatte. Aber sofort kom­men mir wieder Zweifel, zum Donnerwetter! Denn der andere sagt:
"Ich komme jetzt gerade aus Freiburg, wir haben da so eine Art Zweigstelle."
"Jaja", sage ich, "jaja", sage ich immer wieder, als wäre ich genauestens informiert, "jaja, das ist ja auch sehr wichtig", sage ich, ich weiß gar nicht mehr was ich sa­gen soll, "öh wichtig und sicher sehr schön für Sie, die­ses ganze, bei mir ja auch, dieses ganze. . ."
Und der andere sagt: "Sehen Sie, als wir uns damals trafen, da hatten Sie gerade. . ." "Jaja", sage ich, "das hab ich manchmal. . ."
 
Mensch, wo soll das nur gewesen sein. Im Geiste gehe ich blitzschnell alle Möglichkeiten durch, Hamburg, Köln, Bern, Heidelberg, St. Gallen, Saarbrücken, Basel, Bremen, Mainz: nichts.
"Das war doch sehr nett", redet er schon weiter, "da­mals in dem kleinen Nest, wie hieß es doch gleich?" "Ja, verflixt" sage ich, "wie hieß es doch gleich, wie hieß es doch nur, da war doch noch, nein, das war da wohl weniger. . ."
Furchtbar, und man hat dann doch immer Angst, daß man sich verplappert, so daß der andere merkt, daß man ihn nicht erkannt hat, oh, ist das peinlich.
Naja, und dann sagt man: "Wiedersehen, gesund blei­ben, Gruß zu Hause und alles Gute", und weg ist er. Und tagelang überlegt man dann, wer das wohl gewe­sen sein könnte. Was sage ich, tagelang, manchmal dauert's jahrelang, bis man weiß, wen man kennt und wen man wirklich kennt.
 
 1973


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung