Chemnitz - eine Industriestadt zwischen kultureller Tradition und Moderne

Randnotizen

von Jürgen Koller

Die Türme  von Chemnitz - Foto © Margot Koller
Im Jahr 20 des Falls der Berliner Mauer
 
Chemnitz – eine Industriestadt
zwischen kultureller Tradition
und Moderne
 
 

Auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und knapp zwei Jahrzehnte nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit verbindet der rheinisch-bergische Mensch mit dem Freistaat Sachsen in erster Linie den Namen des im barocken Glanz wiedererstrahlten Dresden mit der wundervollen „Sächsischen Schweiz“, eventuell fällt ihm noch das wirtschaftlich erstarkte Leipzig als Buch- und Messestadt und neuem Produktionsstandort von Porsche und BMW ein, und vielleicht denkt er auch, sollte es sich um einen Freund feiner mechanischer Uhren handeln, an das Städtchen Glashütte am Rande des Erzgebirges.
Aber die alte  Industriestadt Chemnitz, die 1953 mit SED-Ukas in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde und deren Bürgerschaft sich im April 1990 mit überwältigender Mehrheit – 76,14 % der

Chemnitz, St. Petri
Foto © Margot Koller
Wahlbeteiligten – wieder für den historischen Stadtnamen Chemnitz entschied, hat aus unseren Breiten kaum jemand im Blick. Anfang der 1990er Jahre titelte „Der Spiegel“ einen Artikel mit dem niederschmetternden Aufmacher „Die vergessene Großstadt“. Und noch heute verkehrt kein ICE in diese Stadt, die Trassenführung sei zu kompliziert, und per Flugzeug ist Chemnitz auch nicht erreichbar. Einzig die Autobahnanbindung  mit den Autobahnen A 4 und A 72 ist vorbildlich.
Das „sozialistische“ Karl-Marx-Stadt hatte zwar einen hohen Anteil an produzierendem Gewerbe, aber nur schwach ausgebaute Dienstleistungsbereiche. So traf das Wegbrechen des Maschinenbaus nach der politischen Wende Chemnitz besonders hart – die Arbeitslosigkeit lag über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer. Dazu kamen noch politische Unentschlossenheit, aber auch Ungereimtheiten in der Verwaltung und eine überforderte  Kommunalpolitik in Fragen, wie es mit dem Stadtzentrum und der Wirtschaftsansiedlung weitergehen sollte. Die Landesregierung in Dresden, das kam erschwerend dazu, konzentrierte anfangs Mittel und Kräfte vorwiegend auf Dresden als Landeshauptstadt des Freistaates sowie auf Leipzig.
Und doch hat sich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wahrlich vieles zum Guten gewandelt. Der Maschinenbau ist wieder in Schwung gekommen, auch Dienstleistungsunternehmen haben sich angesiedelt, und die Technische Universität Chemnitz hat an Ausstrahlungskraft gewonnen. Die Kaufkraft der Chemnitzer Bevölkerung soll merklich über dem Niveau des Durchschnitts Sachsens liegen.
 
Die  ältere Generation mag sich noch an die Anfang der dreißiger Jahre gegründete Auto-Union mit

Sächsische Maschinenfabrik  Hartmann AG
den vier verschlungenen Ringen, die Marken Audi, Horch, DKW und Wanderer symbolisierend, erinnern. Dieses Unternehmen hatte seinen Sitz genauso in der sächsischen Werkzeug- und Textilmaschinen- Industriestadt wie die einst klangvollen Namen Schubert und Salzer - Spinnmaschinen, Schönherr - Webstühle, Wanderer - Büromaschinen, Automobile und Fahrräder, Reinecker - Werkzeugmaschinen, Pfauter - Abwälzfräsmaschinen, Astra - mechanische Rechenmaschinen oder Niles - Drehmaschinen. Später, zu DDR-Zeiten, waren Germania - Chemieanlagen oder Heckert - Fräsmaschinen ein Begriff. Ein Unternehmensname überstrahlte aber im 19. und im frühen 20.Jahrhundert alle - die Sächsische Maschinenfabrik AG, vormals Richard Hartmann. Besonders als Werkzeugmaschinen- und Lokomotivbauer war die Firma bekannt geworden - Lokomotiven aus Chemnitz fuhren nicht nur bei der Königlich-Sächsischen Staatseisenbahn, sondern auch in anderen Ländern des Deutschen Reichs und darüber hinaus in 19 Ländern der Erde, u.a. bei der Bagdad-Bahn. Erst mit der Gründung der Deutschen Reichsbahn, die andere Firmen favorisierte, wie Borsig in Berlin oder Kraus-Maffei in München, verlor die Produktion von Lokomotiven an Bedeutung, und mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde deren Produktion ganz eingestellt. Interessant ist noch, daß es mit Ausnahme der Kriegsjahre in Chemnitz keine Rüstungsindustrie gab.
Da die Industrieunternehmen sich oftmals unmittelbar zwischen den Wohngebieten angesiedelt hatten, galt das alte Chemnitz als ungesunde Stadt der qualmenden Schornsteine, in bestem

Chemnitz, Karl-Marx-Denkmal - Foto © Margot Koller
Sächsisch: „Ruß-Kamz“, eingebettet zwischen sieben Hügeln. Oder es hieß „rotes Chemnitz“, war doch das Industrie-Proletariat oftmals sozialdemokratisch, in manchen Teilen in den 1920er Jahren auch kommunistisch organisiert. Nur Karl Marx hatte mit dieser Stadt absolut nichts zu tun, er war niemals in Chemnitz und auch in seinem Werk „Das Kapital“ spielte das Chemnitz der Gründerjahre keine Rolle. Dafür steht heute noch das ins Unmenschliche vergrößerte Marx-Denkmal als „Zeitzeuge“ für die untergegangene DDR - den Namen Karl-Marx-Stadt wollten die Bürger los werden, aber auf ihren Marx-„Nischel“ wollten sie nicht verzichten - ein Stück „Ostalgie“ eben!
 
Die Stadt Chemnitz war zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren 320.000 Einwohnern nicht nur eines der meist prosperierenden Industriezentren  im Deutschen Reich, sondern auch eine Stadt mit einer für damalige Verhältnisse beachtlichen Sozial-Hygiene, zum Beispiel in der Trinkwasserversorgung oder in der Krankenbetreuung. Gepflegte Parks und Grünanlagen gingen oftmals auf weitsichtige Unternehmer zurück, die als Mäzene für das Gemeinwohl auftraten. Hinsichtlich des Steueraufkommens gehörte Chemnitz vor dem 1. Weltkrieg zu den reichsten Städten  Deutschlands.
Mögen die Industrietraditionen noch relativ bekannt sein - aber Chemnitz als Stadt der Künste und einer beachtlichen Baukultur, das klingt doch eher unglaubwürdig. Aber es ist an dem: So konnte sich die Stadt in nur einem Jahrzehnt vor 1914 einen eleganten Museumsbau und ein modernes „Neues Stadttheater“ - das Opernhaus - leisten. Dazu kam noch ein neues repräsentatives Rathaus. Das städtebauliche Ensemble rund um den heutigen, gegenüber dem Straßenniveau abgesenkten Theaterplatz ist von den Baumassen, von der Höhenstruktur und von der Platzfläche her klar gegliedert. Linkerhand befindet sich das König-Albert-Museum, ein Jugendstilbau, der nach der Wende vorbildlich restauriert wurde. In der Hauptblickrichtung steht das Opernhaus, gleichfalls mit Jugendstil-Einfluß. Beide Repräsentationsbauten wurden nach Plänen des Stadtbaumeisters Richard Möbius in den Jahren 1906 bis 1909 errichtet. Die rechte Seite des Platzes vor der Oper wird von der ansehenswerten neugotischen Kirche St. Peter geprägt - ein  Bau aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen Turm mit dem mächtigen Bühnenhaus der Oper korrespondiert. Und in der

Chemnitz, König Albert-Museum - Foto © Margot Koller
verlängerten Flucht der Kirche bestimmt ein sachlich-funktionaler Zweckbau, das  Hotel “Chemnitzer Hof“ aus den Endzwanziger Jahren, den städtebaulichen Raum.
 
Die Kunstsammlungen Chemnitz im König-Albert-Museum verfügen heute nach dem Berliner Brückemuseum über den zweitgrößten Bestand an Werken des Expressionisten und Gründungsmitglieds der Künstlergruppe „Dresdener Brücke“  Karl Schmidt-Rottluff, der ein Sohn der Stadt ist. Den Grundstock zu dieser Sammlung legte bereits in den Zwanziger Jahren der verdienstvolle Sammlungsleiter Schreiber-Weigand. Allerdings konnten die Verluste, die die Expressionistensammlung durch die NS-Aktion „Entartete Kunst“ erlitten hatte, nie ganz wettgemacht werden - zum einen, weil zu SED-Zeiten der politische Wille fehlte (der in West-Berlin lebende und lehrende Expressionist Schmidt-Rottluff galt bei den Genossen als Unperson) und zum anderen, weil die DDR-Regierung für Zu- und Neukäufe keine Devisen zur Verfügung stellte. Die Grafische Sammlung verfügt gegenwärtig über einen Bestand von 25.000 Blättern - besonders Romantiker und Expressionisten wurden gesammelt.
Bereits 1914 erfolgte an der neuen Chemnitzer Oper - und eben nicht in Dresden oder Leipzig - die sächsische Uraufführung von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“. Unter der Intendanz von Richard Tauber sen., der das Neue Stadttheater als Einspartentheater „Oper“ ab 1918 führte,

Chemnitz, Opernhaus - Foto © Margot Koller
begann dann die Glanzzeit dieses Musiktheaters. In die Theatergeschichte der Stadt Chemnitz sind diese zwölf Jahre seines Wirkens als „Ära Tauber“ eingegangen. Im Jahre 1930 musste Tauber, Vater des berühmten Tenors gleichen Namens gehen, nachdem der Druck auf ihn durch „völkische“ und nationalistische Kreise unerträglich geworden war.
 
Die Oper war im Krieg bis auf die Außenfassade zerstört worden, auch das Museum hatte schwer gelitten. Der Wiederaufbau der Oper begann bereits 1948, gegen den Widerstand der Regierenden in Ost-Berlin. Im Jahre 1951  konnte der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden. Von 1988 bis 1992 mußte das Haus von Grund auf saniert und restauriert werden. Das Opernhaus ist auch Heimstatt der Robert-Schumann-Philharmonie - ein Orchester der A-Klasse.
Dem verheerenden Bombenangriff der Alliierten vom 5. März 1945, bei dem die gesamte Innenstadt zerstört wurde, fiel auch das Renaissance-Rathaus aus dem 16. Jahrhundert zum Opfer. Wiederaufgebaut schließt es sich in weißer Fassade mit seinen Uhr- und Glockentürmen an den

Chemnitz, Renaissance-Rathaus - Foto © Margot Koller
Rathaus-Neubau von 1914 an.
Der Entwurf dieses Neuen Rathauses, dem Repräsentationsbedürfnis des Großbürgertums Rechnung tragend, stammte gleichfalls von Stadtbaurat Möbius. Klare Funktionalität, ohne protzige Überladenheit, bestimmt das Gebäude. Gestalterische und künstlerische Höhepunkte unter Einbeziehung von Jugendstil -Elementen sind die Sitzungs- und Beratungssäle der Kommunalpolitiker. Die Stirnseite des Stadtverordnetensaales schmückt das symbolträchtige Monumentalgemälde „Arbeit-Wohlstand-Schönheit“ (1918) von Max Klinger.  Rätselhaft bleibt dem Betrachter, warum Klinger gerade eine antike, mediterrane Hafenstadt-Szene als Motiv wählte, das so gar keinen Bezug zur Industriestadt Chemnitz hat. Den Feuersturm von 1945 hatte das Wandbild zwar unbeschadet überstanden - die Kommunisten hielten es aber bis in die frühen 80er Jahre abgedeckt und zierten diese nun tote Wandfläche mit dem kernigen Spruch „Der Sozialismus siegt“.
 
Eines der markantesten Chemnitzer Bürogebäude aus den zwanziger Jahren - einst der

Klinger-Fresko - Foto © Margot Koller
Stadtsparkasse  gehörend – beherbergt heute die Sammlung des Münchener Galeristen Dr. Alfred Gunzenhauser, der seine Privatsammlung deutscher Kunst, mehr als 2.400 Werke von insgesamt 270 Künstlern, für das „Museum Gunzenhauser“ stiftete. Das Museum verfügt mit 290 Arbeiten über eines der weltweit größten Otto-Dix-Konvolute und mit 40 Gemälden Europas zweitgrößte Alexej-Jawlenski-Sammlung. Weitere Schwerpunkte der Sammlung sind Felixmüller. Modersohn-Becker, Kolle, Kirchner, Beckmann, Schrimpf, Baumeister, Winter u.v.a., die  vorbildlich präsentiert werden.
 
Im engeren City-Bereich von Chemnitz findet der Architektur-Interessierte noch einige herausragende Beispiele - so das ehemalige Kaufhaus Schocken (später HO-bzw. Centrum-Warenhaus), ein klassischer, halbrunder Bau mit den typischen parallelen Fensterbändern von Erich Mendelsohn aus den Zwanzigern. Das ist übrigens der letzte Kaufhausbau von Mendelsohn in Deutschland, nachdem schon vor etlichen Jahren das Gegenstück in Stuttgart weggesprengt wurde. Die Stadt Chemnitz baute das ehemalige Kaufhaus Tietz - zuletzt in Besitz der Kaufhof AG - zum „Kultur-Tietz“ um. Es beherbergt heute die Stadt-Bibliothek, die Neue Sächsische Galerie für zeitgenössische Kunst, das Naturkundemuseum und im Lichthof als besondere Attraktion den „Versteinerten Wald“, eine Sammlung verkieselter Hölzer (Riesen-Farne) des Unterrotliegenden, ca. 220 Millionen Jahre alt. Von architektonischem Wert sind auch die beiden jetzt noch genutzten Bankgebäude der Sparkasse und der Deutschen Bank, in den späten Zwanziger, frühen Dreißiger Jahren gebaut. Das heutige Stadtzentrum wird dominiert von dem städtebaulich gelungenen

Chemnitz, Roter Turm - Foto © Margot Koller
Ensemble Hotel-Turm (Mercure-Kongress-Hotel) und Stadthalle aus den 1970er Jahren nach den Entwürfen  des Architekten Rudolf Weiser. Am Rande des angrenzenden Skulpturenparks befindet sich der historische Rote Turm,  letzter Zeuge der alten mittelalterlichen Ring-Stadtmauer.
 
Ein architektonisches Kleinod besonderer Art, sowohl als historisches Bauwerk als auch im Interieur, ist die Jugendstil-Villa Esche. Der zu Vermögen gekommene Strumpf-Fabrikant Esche ließ sich seine Villa vor dem 1. Weltkrieg von dem renommierten belgischen Jugendstilarchitekten und -künstler Henry van de Velde erbauen und einrichten. Nach 1945 wurde die von den Kommunisten enteignete Villa jahrelang von der Stasi genutzt, später von der Bezirkshandwerks-Kammer Karl-Marx-Stadt. In den Jahren nach der politischen Wende vorbildlich restauriert und z.T. mit Originalmöbeln der Familie Esche ausgestattet, wird die Villa für Konzerte genutzt und ist öffentlich zugängig.

Das Schloßberg-Museum mit seinem über 60.000 Objekte zählenden stadtgeschichtlichen Bestand besitzt eine bedeutende Sammlung sakraler Plastik von der Gotik bis zum Spätbarock - von Hans

Chemnitz, Schloßkirche - Foto © Margot Koller
Witten über Michael Hegewald bis zur Permoser-Schule. Das Museum ist in die bauliche Restsubstanz des ehemaligen Benediktinerklosters (gegründet 1136) eingefügt. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich die Schloßkirche. Diese spätgotische Hallenkirche ist betont schlicht ausgestattet, wirkt  dennoch monumental. Herausragend das maßvolle Schlingenrippengewölbe und Hans Wittens Geißelsäule.
Vom Schloßberg-Museum und von der  Schloßkirche aus hat man über die Schloßteich-Parkanlage  hinweg einen imposanten Blick über das alte und neuere  Stadtzentrum von Chemnitz. Eine Stadt, die sich zwanzig Jahre nach dem freiheitlich-demokratischen Neuanfang nicht nur ihrer historischen Wurzeln und  kulturellen Traditionen besonnen hat, sondern die nun auch in der kulturell-künstlerischen Moderne angekommen ist. Chemnitz - eine sächsische Industrie-Stadt, die dabei ist,  sich endlich selbst zu finden.


Redaktion: Frank Becker