Moment beim Lesen

Eine Liebeserklärung

von Kurt Tucholsky

Foto © Frank Becker

Moment beim Lesen

Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch vertieft, daß du in ihm versinkst - du bist gar nicht mehr da. Herz und Lunge ar­beiten, dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fa­brikarbeit, - du fühlst ihn nicht. Du fühlst ihn nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne eines Buches. (So möchte man gern gelesen werden.)

Doch plötzlich läßt die stäh­lerne Bindung um eine Spur nach, das Tau, an dem du ge­hangen hast, senkt sich um eine Winzigkeit, die Kraft des Autors ist vielleicht ermattet, oder er hat seine Intensität verringert, weil er sie sich für eine andere Stelle aufsparen wollte, oder er hat einen schlechten Morgen gehabt. . . plötzlich läßt es nach. Das ist, wie wenn man aus einem Traum aufsteigt. Rechts und links an den Buchseiten tau­chen die Konturen des Zim­mers auf, noch liest du weiter, aber nur mit dreiviertel Kraft, du fühlst dumpf, daß da au­ßerhalb des Buches noch et­was anderes ist: die Welt. Noch liest du. Aber schon schiebt das Zimmer seine un­sichtbaren Kräfte an das Buch, an dieser Stelle ist das Werk wehrlos, es behauptet sich nicht mehr gegen die Au­ßenwelt, ganz leise wirst du zerstreut, du liest nun nicht mehr mit bei den Augen. . . da blickst du auf.
Guten Tag, Zimmer. Das Zimmer grinst, unhörbar. Du schämst dich ein bißchen. Und machst dich, leicht ver­stört, wieder an die Lektüre.

Aber so schön, wie es vor­her gewesen ist, ist es nun nicht mehr - draußen klap­pert jemand an der Küchen­tür, der Straßenlärm ist wieder da, und über dir geht jemand auf und ab. Und nun ist es ein ganz gewöhnliches Buch, wie alle andern.
Wer so durchhalten könnte: zweihundert Seiten lang! Aber das kann man wohl nicht.

Kurt Tucholsky