Vorschlag

von Hanns Dieter Hüsch

© André Polozcek /
Archiv Musenblätter
Ich möchte mal mit herzlichem Verlaub hier einen Vorschlag machen,
Den niemand ernst zu nehmen braucht:
In etwa 80 Jahren hört die Menschheit auf zu weinen und zu lachen,
D. h. die Kinder, die noch unterwegs, die werden selbstverständlich noch geboren
Doch dann hörts auf. Und ähnlich wie beim Rütlischwur wird dann geschworen
Und frei erklärt:
Alles schön und gut, doch einmal muß ja Schluß sein, Ende, aus.
Die Art pflanzt sich nicht fort, sie läßt es,
am Anfang war das Wort, am Ende kein Applaus
Sondern Stille: Das sei des Menschen Wille!
 
Nun kann ich mir natürlich denken, daß viele damit gar nicht einverstanden sind
Und rufen: Ja, bitte, wie, wieso, warum, wir sind doch gerade erst in der Entwicklung,
Halt, das kann ja wohl nicht sein, doch nicht im Ernst,
wir müssen da doch noch,
Wir sind doch grad' so schön im Schwung,
wir haben doch auch Zukunftspläne, Planung, Forschung! Und so weiter
Worauf der größ're Teil der Menschheit
heiter und gelassen spricht:
Nein, vielen Dank, es reicht jetzt, es hat sich was mit Ziel und Arbeit am Menschenbild,
Wir haben jetzt die Nase voll, wir danken für die Zeit und sagen jetzt Adieu.
Verbeugung, Diener, Ende, aus.
 
Nun geht es aber los:
Obristen hetzen Soldaten durch die Gassen
Um diese Internationale der Relativisten schnell zu fassen
Marxisten suchen in Sitzungen, geheim,
Nach einem neuen dialektischen Heim
Magier und Meditationsspezialisten versuchen mit
Happenings die Sensibilität noch einmal
Aufzurüsten
 
Astronauten werden im Triumphzug gezeigt
Damit die Menschheit sich noch einmal vor der Wissenschaft verneigt
Gärtner versuchen mit Blumen kleine Ablenkungsmanöver
Die Glöckner von Montreux werfen weitere Aufmunterungsmagazine durch die Gegend
Religionsstifter irren umher und sammeln ihre Leute
Und versprechen mehrere Himmel nebst fetter seelischer Beute
Schnulzen heuler werden von ihren Managern mit Dopingmitteln auf die Märkte getrieben
Um da noch ein wenig Stimmung einzuüben
Politiker kommen, auf den Knien rutschend,
mit ganz neuen Vorschlägen,
Etwa: Die Menschheit möge doch Vernunft annehmen
und die Geschichte müsse doch
Weitergehn. ­-
Aber die Menschheit antwortet: Danke schön,
sehr nett von Ihnen,
Aber wir möchten nicht mehr, und wo steht geschrieben,
daß es immer so weitergehn muß.
Aus. Ende. Schluß.
 
Auch der Tennisclub Grün-Weiß muß natürlich auf seine
200-Jahr-Feier verzichten
Die Dichter hören auf zu dichten
Die Beweise hören auf zu beweisen
Die Erzieher hören auf zu erziehen
Die Reisenden hören auf zu reisen
Die Flüchtlinge hören auf zu fliehen
Die Historiker hören auf zu analysieren
Die Humanisten hören auf zu bewegen
Die Fanatiker hören auf zu soufflieren
Die Erlöser hören auf zu erlösen
Die Beleger hören auf zu belegen
Denn jeder sieht es allmählich ein:
Es muß nicht sein. Es muß nicht sein.
Und es ist auch gar nicht so kompliziert:
Wenn wir uns alle fest an den Händen fassen
Kann man es lassen und der Geschichte den
Abschiedskuß verpassen!
Zuletzt sinds noch sieben, dann fünf, dann drei
Der Letzte begräbt den Vorletzten, verbeugt sich und sagt
ganz frei und unbefangen:
Meine Damen und Herren, das wärs, wir sind,
Verzeihn Sie, der Geschichte aus dem Wege gegangen.
 
Nun, wie gesagt, dies ist ein Vorschlag,
Den niemand ernst zu nehmen braucht,
Ein Vorschlag, gedacht als Anregung, als Denkanstoß, als Diskussionsbeitrag,
Von mir aus auch als Scherz, Satire, tiefere Bedeutung,
Ein Vorschlag, dessen weitere Verbreitung ich nicht verfolgen möchte,
Denn auch zu meinen eigenen Gedanken fällt mir manchmal ein:
Es muß nicht sein. Es muß nicht sein.
 
1972


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung