Die Geheimnisse der Dichter

Eine treffliche Beobachtung der Literaturwissenschaft

von Victor Auburtin

Victor Auburtin (1870-1928)
Die Geheimnisse der Dichter
 

Einem italienischen Gelehrten ist der Nachweis gelungen, daß Dante einen unehelichen Sohn gehabt hat. Dieser uneheliche Sohn hat Giovanni geheißen, man weiß aber weiter nicht, was aus ihm geworden ist und wer seine Mutter war.
Als der italienische Gelehrte diese Entdeckung gemacht hatte, wurde er außerordentlich froh und glücklich. Dante selbst in dem Augenblick, da er erfuhr, daß er einen unehelichen Sohn habe, Dante selbst wird kaum so froh und glücklich gewesen sein wie der erwähnte italienische Gelehrte bei seiner Entdeckung gewesen ist.

Denn es ist von größter Wichtigkeit zu wissen, daß Dante einen unehelichen Sohn gehabt hat. Die dämmernden Schluchten der Göttlichen Komödie, ihre Rätsel und bitteren Schönheiten werden ja erst verständlich, wenn wir wissen, daß Dante einen uneheli­chen Sohn gehabt hat, daß er also seiner Frau und der Beatrice un­treu gewesen ist. Alles erscheint in einem neuen Licht. Im Licht der Lokalreportage.
Ähnlich haben vor einigen Jahren die französischen Literarhistori­ker die Affäre Victor Hugo durchsucht und schließlich glücklich entdeckt, daß dieser Dichter von seiner Frau betrogen worden ist. Und als sie dies heraus hatten, da haben sie in ihren Wochen­schriften ein wildes Jubelgeschrei ausgestoßen und viel Bücher darüber geschrieben.
Um diese Entdeckung hat sich besonders Herr Louis Barthou ver­dient gemacht, den wir ja auch sonst kennen. Herr Barthou ist nicht nur ein Staatsmann, er ist auch ein feinsinniger Literarhisto­riker.

Schön. Wie steht es aber nun mit der Frage: war Homer ge­
schlechtskrank?
Es wird ja ein bißchen schwerhalten, das zu untersuchen, aber Heil dem klassischen Philologen, dem es gelingt, zu dieser Frage die bewußten Aufklärungen und Entdeckungen zu liefern, die wir so gern vernehmen.
All das erklärt sich so: zu dem Studium der Dichtkunst drängen viele herbei, die mit diesem Studium nur eine bürgerliche Stellung erwerben oder sich in einer bürgerlichen Anstellung halten wol­len. Diese Leute haben für die Idee und den Wohllaut der Dich­tung nicht das geringste Gefühl; Idee und Wohllaut sind ihnen vollständig gleichgültig, wenn nicht gar verhaßt. Da sie doch aber irgend etwas tun müssen, untersuchen sie das Nachtgeschirr des Dichters, das ihnen geistig näher steht.
 
Es gibt Rosenzüchter, die sich mit den Blattläusen mehr beschäf­tigen als mit den Rosen.