Mann ohne Kopf

Eine phantastische Erzählung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Mann ohne Kopf

Eine phantastische Erzählung


Als der Achtzehnjährige kurz zuvor die Schule mit ausreichendem Erfolg beendet hatte, saß die Familie einmal in der Abendsonne auf der Terrasse, von der aus man zum Waldrand hinüber blickte. Ein Gast war zu Besuch, ein Freund der Eltern, von Beruf Maler. Er verdiente nicht viel Geld mit seiner Kunst, aber er litt auch keine Not, zumal er viele Freunde hatte, die ihn zum Essen einluden. Auch die Frauen reicher Männer schätzten ihn und sorgten manchmal dafür, daß man ihm ein Gemälde abkaufte. Wenn er zum Arzt mußte, erkundigte er sich vorher, ob er die Behandlung mit einem Bild bezahlen dürfe. Er war nie versichert gewesen. Trotzdem hatte er bis jetzt überlebt.
Noch mehr Freude als an seinen Bildern hatte jeder an den Gesprächen mit ihm. Er wußte immer etwas zu berichten, das andere nicht wußten oder das eine bekannte Persönlichkeit in neuem Licht erscheinen ließ, nicht selten in deren Liebesbeziehungen. Und er sagte manchmal etwas, das andere tagelang nachdenken ließ.
Der Maler war immer wieder zu ungewöhnlichen Dingen fähig. Er pflegte Freundschaften zu Frauen, die einem nächtlichen Gewerbe nachgingen – zutreffender gesagt, er fühlte sich wohl im Kreise solcher Mädchen und verweilte oft nächtelang plaudernd mit ihnen -, aber er wurde auch zu reichen Leuten eingeladen, die ihn seine Bilder ausstellen ließen. Selten aber kaufte man ein Bild von ihm. Die Zeiten waren schlecht.
 
Der Maler nahm den Achtzehnjährigen, der dieses Ereignis in den prächtigen Räumen wie einen Traum erlebte, mit zur Eröffnung einer Ausstellung. Die Namen, die er hörte, ließen ihn erschauern. Da waren die Frauen bekannter Männer aus der Regierung, Verleger, Fabrikanten, Frauen von reichen Männern mit harten Stimmen, Schönheitschirurgen mit Galgenvogelgesichtern. Das Leben hier  erschien wie ein Fest voller Annehmlichkeiten.
Der Achtzehnjährige hörte den Maler sagen: „Es gibt Nachrichten aus dem Jenseits. Das Hinzulernen hört auch dort nicht auf. Man soll niemals aufhören zu lernen.“
Diese Worte wurden bestimmend für die nächsten Wochen im Leben des Jungen. Er fühlte, daß er sein bisheriges Leben hinter sich lassen mußte, um es gegen ein völlig anderes einzutauschen. Er mußte das Elternhaus verlassen. Er wollte auch Maler werden. Im Elternhaus würde er dies niemals schaffen, denn hier glaubte niemand an seine Begabung und an seinen Willen, ein berühmter Maler zu werden. Er wurde in seiner Entwicklung behindert, das stand für ihn fest. Wenn er solche Gedanken nur andeutungsweise verriet, bekam seine Mutter große Angst um ihn.
Sie ahnte, was in ihm vorging, und diese Ahnungen erfüllten sie mit Angst um seine Zukunft. Sie wußte aber, daß man mit ihm nicht über solche geheimen Gedanken sprechen konnte und wußte nichts anderes zu tun, als sich in ihren Gebeten für ihren Sohn an den Heiligen Antonius zu wenden. Wenn sie ihn von seinen undeutlichen Plänen abzubringen versuchte, wurde er sogar heftig.
Den Maler lud sie nicht mehr ein.
 
Der Sohn war in der Stadt gewesen und saß im Bus auf dem Weg nach Hause – aber da geschah es! Erst war es nur ein Unbehagen, das er spürte, doch es wuchs empor zu einer stummen, riesigen, schwarzen Tatsache, als er aus dem Bus stieg.
Es wurde ganz plötzlich klar: Er besaß keinen Kopf mehr. Er merkte es noch deutlicher, als seine Hand dorthin zuckte, wo er sich sonst ratlos am Kopf gekratzt hätte. Er wußte, da war nichts. Er wollte die Stelle nicht berühren, so wie ein Verletzter vielleicht den Blick von einer schlimmen Wunde wegwendet.
Mitten im Großstadtverkehr, in einem kleinen, grünen Park bei der Bushaltestelle, setzte er sich auf eine Bank. Die Aktentasche drückte er so an seine Brust, daß sie die Stelle verdeckte, an der bisher sein Gesicht gewesen war. So kam zunächst keiner der Vorübergehenden auf den Gedanken, da säße ein Mensch ohne Kopf.
In der Mittagsstille wurde er schläfrig. Die Gedanken lösten sich langsam von der Katastrophe, die über ihn gekommen war; statt dessen trieb er in einem Strom von Bildern und Gefühlen sanft dahin, Bilder und Gefühle, die er nie beschreiben können würde. Vielleicht hätte Musik sie beschreiben können, die ja Gefühle ausdrücken konnte, für die es noch keine Worte gab, aber selbst das war hier unwahrscheinlich, den aus diesem Strom stiegen auch Forderungen, Spannungen, Widerstände und Gefahren auf, die er fühlte, für die er jedoch wiederum keine Worte hatte.
Auch die Außenwelt war zu fühlen und zu sehen. Die Nachmittagssonne glitzerte vor seinen blinzelnden Augen, die knirschenden Schritte Vorübergehender waren zu hören, der Wind fächelte über seine Stirn. Und dann war etwas ganz nahe! Sein Blick, der nach unten gerichtet war, erfasste neben sich Frauenfüße in lackglänzenden Schuhen. Zu diesen Füßen mußte eine Frau gehören, und allein dieses Wissen durchrann ihn warm, so als ob von Frauen nur Gutes, Schönes und Wohltuendes zu erwarten sei. Aber er erwartete es nun einmal und sagte, indem er sich der Nachbarin zuwandte: „Guten Tag. Ich hatte Sie gar nicht bemerkt.“
Das schöne Mädchen neben ihm schwieg, ja, sie blickte an ihm vorbei, als gebe es ihn gar nicht.
Er fügte hinzu: „Ich fing schon an mich einsam zu fühlen“. Und wieder bekam er keine Antwort, ja, nicht einmal einen Blick. Es dauerte nur Sekunden, bis er voll Entsetzen begriff, daß er ja ohne Kopf mit ihr gesprochen hatte. Aber dann hätte sie doch wenigstens seinen Rumpf bemerken müssen? Oder es war der Schock, der sie um den Verstand gebracht hatte?
Er sprang auf und lief davon. Hinter sich hörte er das Mädchen rufen: „Beim Friseur bekommen Sie einen Kopf.“ Er lief noch schneller, aber er wußte jetzt, wohin er zu gehen hatte, nämlich zum Friseur. Während seines Laufs drehten sich die Passanten nach ihm um. Er ahnte ihr Entsetzen. Manchmal hörte er das Geräusch von stürzenden Menschen hinter sich. Das mußten solche sein, die bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen waren.

Beim Friseur hatte er sich in die Ecke gesetzt, und, als er zu einem der freien Sessel gerufen wurde, stand er mit aufgeschlagener Zeitung, die sein nicht vorhandenes Gesicht verdecken sollte, auf und ging auch in dieser Position zum Sessel. Glücklicherweise unterhielt sich der Friseur während der Behandlung die ganze Zeit mit dem Herrn im Nachbarsessel. Der kopflose junge Mann nahm nichts davon war, aber er fühlte seine Augen feucht werden, als er auf einmal spürte, wie der Friseur seinen Kopf massierte. Ich bin wieder Mensch, dachte er voller Dankbarkeit.
„Schauen Sie doch einmal in den Spiegel“, sagte der Friseur. „Sieht doch gut aus, nicht wahr.“
Jetzt blickte der junge Mann voll in den Spiegel. Er schaute angestrengt, sah zunächst nur Schleierwolken, dann Umrisse, und dann – das war aber nicht er! Nein, er war es nicht, es war – es war ein freundlich lächelndes Kind, ein Mädchen, das eine Silberdistel in der Hand hielt und ihm winkte, er möge kommen. Zuerst zögerte er, aber der Befehl war unwiderstehlich.
Er stand auf und begann vorwärts zu gehen, vorwärts, immer geradeaus. Er ging auf einem sommerlichen Weg, der in gleißendem Sonnenlicht endete. Bevor er am Ende ankam, hörte er das Kind rufen. Er blickte sich um und sah es verzweifelt winken. Es zeigte in eine andere Richtung, aber dorthin führte kein Weg. Der junge Mann zuckte ratlos mit den Schultern und ging weiter.
Da ruhte seine Mutter im Liegestuhl im Garten und schlug gerade die Augen auf, als er sich näherte. „Da bist du ja wieder“, sagte die Mutter, „ja – ach – ich habe da ja schreckliche Sachen geträumt! Du wärst beim Friseur gewesen. Warum träume ich solchen Unsinn!“
„Doch, beim Friseur war ich gerade, da komme ich her“, sagte er.
„Ach nein. Wie seltsam.“
„Ich wollte mich ja morgen an der Ingenieurschule anmelden, deswegen.“ „Ach“, sagte die Mutter, „deswegen. Schön. Das ist vielleicht genau das Richtige für dich, du zeichnest doch so gern - wohin guckst du  - hallo, ist da was? Sag!“ Sie sah ihn fragend an.
„Nein, nein“, antwortete er verwirrt. „Ich dachte nur – war hier in der Nähe irgendwo ein Kind?“
„Ein Kind? Hier? Wieso? War da eines?“
Wahrscheinlich sei nichts gewesen, sagte der Sohn. Manchmal habe man nur so das Gefühl...
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007