Muttertag (4)

von Birgit Bayer

Birgit Bayer
Muttertag (4)
 

Tutta wird bewußt, daß Angelika immer noch über Marcia redet. Laut und dröhnend. Plötzlich geht ihr das ein bißchen auf den Nerv. „Ja, ja, nun ist es ja gut,“ fährt sie Angelika über den Mund. „Jetzt wissen wir es ja alle.“ Sie hat nun keine Lust mehr, über Marcia zu reden. Und Angelika nimmt sowieso keiner ernst. Angelika sagt immer alles im Brustton der Überzeugung. Immer das, was Tutta vor ihr gesagt hat.
Tutta holt lieber mal die Fotos von ihren Enkeln hervor. Drei Enkel hat sie von ihrer mittleren Tochter, Veronika. Drei Mädchen. Lauter Wunderkinder. Die Älteste ist schon mit 12 eine begnadete Schriftstellerin. Die Mittlere spielt jetzt schon vier Instrumente. Die Jüngste wird vermutlich mal eine tolle Malerin werden. Sie ist drei Jahre alt. Tutta kramt  zum Beweis eine Zeichnung hevor. „Ist das nicht toll? Für drei Jahre? Ist doch super. Ich weiß wirklich nicht, woher sie das haben. Von Veronika ganz sicher nicht. Diese Begabung. Fast schon Genie.“ Und sie lacht ein wenig bei der Vorstellung, ihre Tochter Veronika könne glauben, ihre Kinder seien ihr nachgeschlagen. Vielleicht dem Vater? Aber das ist eher unwahrscheinlich, meint Tutta. Der ist Hausmann.
 Veronika ist heute nicht hier. Aber Tutta würde auch ihrer Tochter ins Gesicht sagen, daß ihre Kinder die Klugheit und die Kreativität sicher nicht von ihr haben.
Doris schaut Tutta an und denkt an die Muttertage bei ihrer Großmutter. Die liegen nun fast 30 Jahre zurück. Sie hat ihre Kusinen seitdem nur sporadisch gesehen. Bei Muß-Ereignissen, wie Begräbnissen und offiziellen Einladungen.
 
Damals aber waren sie am Muttertag immer alle bei Großmutter. Alle, das hieß Großmutters Enkelinnen Esther, Tutta und Nele, Großmutters Töchter Leni und Lotti, Doris´ Mutter. Und Doris. Aber sie erinnert sich, daß sie irgendwie nicht dazu gehörte. Sie kam sich oft komisch vor, wenn ihre Kusinen sie bei ihrem Eintreffen mit so einem merkwürdigen Gesichtsausdruck betrachteten. Doris hatte schon bemerkt, daß sie von ihrem Äußeren nicht zu ihrer Verwandtschaft paßte: Sie sind alle dunkelhaarig, fast schwarz, groß gewachsen, mit einem Oberkörper, der ohne Taille in die Hüften übergeht. Doris ist klein blond, zierlich mit strammen Oberschenkeln.
Bei den Muttertagen saß Doris also nur dabei und schaute. Gegen Abend brachte man die Großmutter ins Bett. Doris hatte immer den Eindruck, daß für ihre Kusinen nun der ersehnte Höhepunkt des Abends kam. Die drei Schwestern saßen im Kreis um ihre Mutter Leni herum. Lotti saß etwas abseits und strickte, Doris saß Leni gegenüber.
Doris ist auch die Jüngste in diesem Kreis. Die Erinnerungen, die ihre drei Kusinen beim Muttertag auftischen, betreffen die Zeit der Evakuierung in den Osten Deutschlands, die damals sogenannte „Ostzone“. Sie waren von Düsseldorf in das kleine Nest Werda in Thüringen geschickt worden, notdürftig alle zusammen im freigeräumten Saal einer Schankwirtschaft untergebracht und von Einheimischen umgeben, die diese fremden Eindringlinge möglichst übersahen. Die Großstädter mußten sehen, wie sie überlebten. Doris erinnert sich an die Erzählung ihrer Mutter, daß sie dort in dem einem Raum, den sie alle gemeinsam bewohnten, jede Nacht wie am Spieß geschrieen hat. Niemand konnte schlafen.
Irgendwann war das Baby Doris dann im Krankenhaus. „Das war ganz schrecklich, ganz furchtbar, als ich dich besuchen kam,“ erzählte Lotti ihr. „Du warst so klein und zart und man hatte dir ein zentnerschweres Kissen als Zudecke gegeben - nein, was war das schrecklich. Ein zentnerschweres Kissen. Wie kann man nur! So ein kleines, zartes Baby. Ich bin gleich nach Hause gelaufen und habe dir dein leichtes Daunenkissen geholt.“
„Warum war ich denn im Krankenhaus?“ hatte Doris einmal gefragt. Aber da bekam sie wieder den schwarzen Blick. „Na, warum denn wohl,“ hatte ihre Mutter schnippisch erwidert. „Du wirst wohl krank gewesen sein.“ „Was hatte ich denn?“ hatte Doris gewagt zu insistieren und Lotti hatte die Augen zum Himmel gehoben, wie belästigt: „Das weiß ich wirklich nicht mehr.....ist doch auch unwichtig.“
 
Aber eigentlich kennt Doris die Zeit nur von ein paar Fotos. Da lag sie mit weißem Mützchen in einem Puppenwagen. Nele hatte sie als ihre lebendige Puppe auserkoren und schob sie über Stock und Stein. Das Foto mit dem Puppenwagen war auf einer großen Wiese aufgenommen, im Hintergrund blökte ein Schaf in die Kamera...
 
„......und es roch dort so herrlich nach Flieder“, erinnert sich Tutta. Eigentlich war es in Werda ganz schön, viel Natur mit Wald und Bächen...“
„Das war kein Flieder, es war Holunder,“ sagt Esther geduldig.
„Ach Quatsch, ich weiß doch wie Flieder riecht,“ erwidert Tutta genervt. „Außerdem sehe ich den Fliederbusch genau vor mir, er stand an der Hausmauer und die obersten Äste reichten bis ans Dach.“
„Das war ein Holunderstrauch,“ wiederholt Esther.
„Mutti, sag du doch mal - du mußt es doch am besten wissen,“ wendet sich Tutta hilfesuchend an ihre Mutter. Leni stichelt an einem Deckchen. Sie sieht mit einem kleinen Lächeln hoch. Doris kriegt eine Gänesehaut, sie weiß nicht warum.
„Fragt doch Nele,“ sagt Leni fein. „Die war doch immer die Beste in Naturkunde.“
„Puuuuh,“ prustet Tutta empört. „So gut war sie nun auch wieder nicht, ich war auch sehr gut in Naturkunde.“
„Aber Nele war die Beste,“ beharrt Leni leise, den Kopf wieder über ihre Stichelei gebeugt.
„Aber ich war die Beste in Russisch,“ läßt sich Esther vernehmen. „Und in Deutsch natürlich.“
„Da war ja auch mein Fach,“ stellt Leni fest, da hattest du viel von mir.“
„Ist doch scheißegal, wer wo die Beste war,“ haut Nele jetzt grob dazwischen. „Ihr wollt euch nur wieder streiten.“
„Das mußt gerade du sagen, du Streithammel,“ sagt Esther empört. „Du warst immer die Kleinste und hast uns verpetzt, wenn du nicht kriegtest, was du wolltest. Ewig hat Mutti dich in Schutz genommen.“
Leni lächelt in sich hinein. „Ach,“ sagt sie fein, „ich habe euch doch alle gleich lieb.“
„Aber Esther hast du immer vorgezogen,“ sagt Tutta und Esther lacht.
„Duuuu,“ sagt Tutta jetzt sehr wütend und spießt Esther mit dem Zeigefinger auf. „Duuu durftest mit der Mutti die halbe Nacht zusammen sitzen, damals in Werda. Alles hat sie mit dir beredet, alles. Und du warst erst vierzehn. Aber ich mußte ins Bett. Ich lag im Bett nebenan und habe gehört, wie sie dich als Erwachsene behandelt hat.“
Esther versucht, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken. „Aber das stimmt doch garnicht,“ sagt sie und ihre Lippen lächeln wider Willen.
„Wohl stimmt es, wohl stimmt es,“ stößt Tutta erregt hervor.
Esther sieht aus, als sei ihr wohlig zumute. „Ach,“ sagt sie gönnerhaft, „mit dir wird die Mutti wohl auch das ein oder andere besprochen haben.....“
„Nein, hat sie nicht, hat sie nie.“ Fast heult Tutta es hervor.
Doris schaut ihre Tante Leni an. Ihre schmalen Lippen haben sich wie unter Zwang zu einem breiten Lächeln verzogen. Sie versteckt es mit tief gesenktem Kopf in der Handarbeit auf ihrem Schoß.
Nele kommt Tutta zur Hilfe.
„Doch das stimmt,“ wendet sie sich an Esther. Ich hab das auch mitgekriegt. Dich hat sie wie ihresgleichen behandelt.“
„Aaach du,“ wehrt Esther geringschätzig ab. „Du warst ja noch viel zu klein, um irgendwas mitzukriegen.“
„Ich war überhaupt nicht zu klein,“ erregt sich Nele. „Ihr habt mich alle nur so behandelt, weil ich die Jüngste war. Aber zum Holz klauen im Wald war ich gut genug, weil ich so klein war. Die Drecksarbeiten, die durfte ich machen. Und zum Bauern nach Milch betteln habt ihr mich alle drei geschickt. Nie hat die Mutti mal eine von euch geschickt.“
„Das stimmt doch nicht,“ geht Tutta wütend dazwischen. „Du warst immer Muttis Liebling. `Nele kann alles, Nele macht das schon, schicken wir Nele, die kann das am besten´. Immer hat sie so von dir geredet, stimmt doch, Mutti, oder?“
Mutti zuckt mit den Achseln. Ihr steckt ein gewaltiges Lachen in der Kehle.  Das sieht man an ihren Augen. Sie schlägt sie nieder und läßt ein kleines Kichern ertönen.
„Und ihr, ihr habt es sowieso gut gehabt,“ schreit Tutta jetzt. Sie hat Tränen in den Augen. „Ihr durftet ja bei Mutti bleiben. Ich mußte weg, in den Westen, ganz allein mit Vati.“
„Ooooch, armes Klein-Tuttchen muß wieder heulen,“ höhnt Esther. Tutta ist mit einem Satz auf den Beinen und fährt mit beiden Händen in Esthers dichtes schwarzes Haar. Sie reißt und zerrt. „Du gemeine Ziege, immer hast du alles gekriegt,“ kreischt sie.
Esther schreit. Mutti lacht. „Nun, nun,“ sagt sie einlenkend. „Das ist doch alles nicht so schlimm.“
Nele zieht Tutta weg von Esther. Die drei Frauen keuchen.
Doris friert.
Sie schaut ihre Mutter an, die mit versteinertem Gesicht auf ihr Strickzeug schaut. Die Ehemänner von Nele und Esther, die mitgekommen sind, sitzen an der gegenüberliegenden Wand. Sie reden kaum. Eine Cognacflasche steht vor ihnen, fast leer.
 
Claudia, Tuttas jüngste Tochter, schaut ihrer Mutter über die Schulter, um die geniale Zeichnung der dreijährigen Nichte zu sehen. Sie findet es auch lustig, daß Veronika so begabte Kinder hat. „Wo sie das bloß her haben?“ fragt sie kopfschüttelnd. „Bestimmt nicht von Veronika.“
Claudia hat keine Kinder. Auch keinen Beruf. Sie hat die Schule abgebrochen und auch alle Berufsausbildungen. Irgendwie ging ihr immer die Lust verloren, etwas zu Ende zu machen. Dann lernte sie einen 20 Jahre älteren Ingenieur kennen. Er hat sein eigenes Büro. Dort macht Claudia alle anfallenden Arbeiten und lebt mit ihm zusammen. So sind sie beide zufrieden. Claudia hat breite Schultern, kurze Haare und trägt immer nur Hosen und Lederjacke. Von hinten kann man die beiden fast verwechseln.
Tutta ist nicht zufrieden mit der Wahl Claudias. Sie meint, Leo würde ihre Tochter ausnützen. Aber darüber lacht Claudia. Sie hat sich daran gewöhnt, um 5 Uhr aufzustehen. Wenn Leo dann mittags um 12 Uhr ein Nickerchen macht, wacht sie über das Telefon. Oft sind sie bis abends um 10 Uhr im Büro.
Als Großmutter starb, fand die Beerdigung ausgerechnet am Muttertag statt. Alle waren zusammen in Lenis Wohnung. Die Ehemänner von Nele, Tutta und Esther zogen sich mit einer Flasche Wodka ins Schlafzimmer zurück. Leni eröffnete der Familie, daß man bei ihr ein Darmkarzinom entdeckt habe. Ihre Schwester Lotti war darüber äußerst erregt. „Das hat sie nur wegen des Ärgers und der Sorgen um Tutta,“ sagte sie hinter vorgehaltener Hand schockiert zu Doris. Tutta war da gerade schwanger mit Veronika. Das Chinin hatte nichts genützt.
Leni warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu: „Den Ärger hast du mir ja wohl gemacht,“ zischte sie.
„Aber wieso,“ fragte Lotti bestürzt, „ was habe ich damit zu tun?“
„Warum mußtest du sie aus Düsseldorf in dieses Kaff holen,“ sagte Leni böse. „Sie wäre bei mir zuhause besser aufgehoben gewesen. Sie ist jetzt gerade mal ein Jahr bei dir und schon ist sie schwanger von diesem.......von diesem.........“
„Dafür kann ich nichts,“ erwiderte Lotti. Sie sieht sehr selbstzufrieden aus, findet Doris. „Deine Tochter hat es bei mir sehr gut.“
„Aber sie ist meine Tochter,“ sagte ihre Schwester erbost, „und bei dir hat sie diesen Nichtsnutz kennengelernt, Musiker, daß ich nicht lache. Und drogensüchtig. Das hat sie nun davon, daß sie es bei dir sehr gut hatte.“
Lotti schaut beleidigt. „Was kann ich dafür,“ sagt sie spitz, „wenn deine Töchter lieber bei mir wohnen, als bei dir? Das muß doch wohl an dir liegen..... Tutta jedenfalls hat es bei mir sehr gefallen.“
„Oh ja,“ sagt ihre Schwester schneidend, „genauso wie meiner Ältesten Esther. Sie ist jetzt verheiratet mit einem alkoholabhängigen Maler......den hat sie auch hier kennengelernt.“
„Sie hat ihn durchaus nicht hier in meinem Haus kennengelernt,“ stellt Lotti hochmütig fest. „Was deine Tochter außerhalb des Hauses macht, kann ich nicht überprüfen.....“
„Aber es sind meine Töchter, verstehst du, meine Töchter, meine Kinder. Du weißt ja garnicht, was das heißt. Du mußtest dir ja fremdes Blut ins Haus holen, weil du keine eigenen Kinder haben kannst. Warum kannst du dich nicht mit deinem Bankert zufrieden geben, warum mußt du meine Töchter auch noch zerstören?“
Als Leni an Krebs gestorben war, bekam Doris ein Jahr später eine Einladung zum Muttertag. Er sollte bei ihrer Mutter Lotti gefeiert werden......
 
Nun kommt Marcia von der Bühne herunter. Tutta ist aber mit ihren Enkelkindern beschäftigt. Sie kümmert sich jetzt nicht um Marcia. Marcia nimmt die Glückwünsche der anderen Partygäste entgegen. Sie lächelt geschmeichelt. Dabei zieht sie nur die dünne Oberlippe nach oben. Die Unterlippe bleibt auch beim Lächeln immer in der gleichen Stellung.
Sie sagt, daß sie vorhabe, Gesangsstunden zu nehmen. Sie hat ja Zeit, ist immer zu Hause bei Esther und Detlef. Dort geht es ihr gut. Jetzt wieder. Als junges Mädchen hatte sie mal so Zustände. Sie hat alles in ihrem Zimmer zerbrochen, auch die teuren Gläser aus dem Schrank ihrer Eltern. Die zerstörten Dinge hat sie dann in einem großen Haufen mitten in ihr Zimmer gelegt und sich davor gesetzt. Und sie hat geredet. Sie fing damals an, Familiengeheimnisse auszuplaudern. Aber das hat man ihr abgewöhnt. War sowieso alles erstunken und erlogen. Sie hat Tabletten bekommen, damit sie ruhig wurde. Danach hat sie lange Zeit Heroin gespritzt. Der Entzug war ziemlich hart. Es hat auch ziemlich lange gedauert, weil sie immer wieder rückfällig wurde.
Zufällig hat sie damals in der Entzugsklinik ihre Kusine Julia getroffen. Neles Tochter. Das fanden sie lustig, daß sie sich beide als Patienten in der Entzugsklinik getroffen haben. Wer kommt denn auf sowas? Aber sie haben sich gefreut. So hatten sie Gesellschaft.
Marcia mustert ihre Kusine Julia unauffällig. Sie ist 33, zwei Jahre jünger als sie. Aber sie sieht älter aus, findet Marcia. Julias Gesicht ist verhärmt und blutleer. Nun ja, denkt Marcia, von Sozialhilfe lebt es sich wohl auch nicht so gemütlich.
Aber Julias Tochter Sonny sieht sehr süß aus. Sie ist 9 Jahre und ein fröhliches Kind. Schade, daß sie nicht weiß, wer ihr Papa ist......



© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009

Redaktion: Frank Becker