Herr Lentzing und das unversehrte Brot

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Das unversehrte Brot


M
an sollte später sagen, daß es gut ausgegangen war, aber in dem Augenblick, als Herr Lentzing sein „Nein“ in den Verlaufsraum schrie, sah es erst nicht so aus.

Es war im Südring, kurz vor sechs. Die Mitarbeiter einer Bäckereifiliale bereiteten sich schon auf den Feierabend vor. Ein Mann hatte noch ein Brot erworben und wartete darauf, daß es eingepackt wurde. Die Verkäuferin, die mit ihren Gedanken schon woanders war, ging mit dem Kassler zur Schneidemaschine und wollte es in den Schnittapparat setzen, als ein deutliches „Nein“ die Zerteilung störte. Der Mann schrie noch mal „Nein“, um ganz sicher zu gehen, daß sein „Nein“ nicht nur gehört, sondern auch verstanden worden war. Die anderen Kunden zuckten zusammen und verstanden jetzt erst den Ausmaß der Katastrophe. „Ich habe doch gesagt, daß ich mein Brot nicht geschnitten haben will“, sagte der Mann erklärend den Umstehenden. „Ich habe ganz deutlich gesagt, daß ich mein Brot nur ganz so wie es ist, mitnehmen will“. Die junge Bäckereiverkäuferin weinte. „Tut mir leid“, sagte sie. „Manches macht man einfach so, ohne nachzudenken.“ Sie sah auf das Brot, welches noch immer von ihren Händen über die Schneidemaschine gehalten wurde und drückte es schnell an sich. Natürlich macht man manches einfach so ohne darüber nachzudenken, aber wo soll das hinführen? Was hätte da nicht alles passieren können? Die Maschine hätte in Sekunden den Brotlaib zerhackt, zerkleinert und aufgeteilt. Man darf gar nicht drüber nachdenken. Ein ganzes Brot ist etwas anderes als ein geschnittenes Brot. Entweder ist etwas zusammen oder auseinander. Das Auseinandersein stört das Wesen eines Brotes. Ein Brot ist kein Regenwurm, der bei jeder Zerteilung trotzdem Kontakt mit den anderen hat. Ein ganzes Brot wartet lieber auf den täglichen Anschnitt und Nutzer können sich die Scheiben ganz anders einteilen als Brotesser, die sich auf die üblichen Portionen einlassen.

Keiner der umstehenden Kunden, wußte, wie er sich verhalten sollte. Man stand dort wie unter Schock. Plötzlich umarmten sich einige. Man atmete auf. Da war was gut gegangen. Da hatte jemand schnell reagiert und drohendes Unheil abwenden können. Man konnte sich wieder getrost an die Milch erinnern, die man auch noch kaufen wollte. Wie glücklich dann der Brotretter sein ganzes Brot mitnahm und in die Dunkelheit der Paderstadt verschwand. Das war ein schönes Bild.


©  Erwin Grosche
2009