Frank Hinrichs - "Enagramme"

Eine Vernissage in Duisburg

von Andreas Steffens

Frank Hinrichs - Steinlicht
Die soeben als Kunstverein Duisburg neu konstituierte Galerie Weidenweg in Duisburg-Ruhrort zeigt bis zum 4. April als erste Kunstvereinsausstellung unter dem Titel ‚Engramme’ Bilder des Düsseldorfer Malers Frank Hinrichs.
Wir dokumentieren die Rede, die Andreas Steffens zur Eröffnung der Ausstellung hielt.
 
 
Andreas Steffens
Vom Verschwinden im Erscheinen, vom Erscheinen im Verschwinden
Frank Hinrichs . Engramme
 
 
Aber wie überhaupt Malerei in Worte fassen?
Mit dieser Frage unterbricht Paul Valéry seine Überlegungen zu >Zeichnung, Tanz, Degas<. Als hätte den Autor der Mut des Ausdrucks verlassen.
Was als Einbekenntnis plötzlicher Ratlosigkeit klingt, ist tatsächlich eine Bewährung philosophischer Zuständigkeit, hat Philosophie sich doch immer wieder an der Kunst eben deshalb zu bewähren, weil sie selbst nichts anderes ist als die Kunst des Nachdenkens.
So will mir mein eigenes Innehalten angesichts der Kunst Frank Hinrichs’ nicht als Hinweis auf Unzuständigkeit erscheinen, sondern als Herausforderung zu philosophischer Bewährung – hat es seine Ursache doch in der Begegnung mit einer Vollkommenheit.
Sich sprachlos schweigend dem Empfinden einer reinen Freude zu überlassen, das sie wecken kann, ist gewiß keine unangemessene Reaktion.
In dreißig Jahren praktischen ebenso wie theoretischen Umgangs mit Malerei ist es mir nur einige wenige Male ergangen wie mit seiner: im ersten Anblick uneingeschränkt, und mit einem tiefen Empfinden des Einverständnisses davon überzeugt zu sein, es mit einer Vollkommenheit zu tun zu haben. Selten habe ich das Glück der Anschauung als sinnliche Überwältigung so intensiv erfahren wie in der ersten Begegnung mit diesen Bildern. Am treffendsten bezeichnet diesen Eindruck das alte, nur selten noch sinnerfüllt verwendete, Wort: Begeisterung.
Und dann folgt doch – Überlegung. Wie auch anders, steckt in der ‚Begeisterung’ doch der ‚Geist’, und der bedarf der Gedanken.
Bei aller Schönheit, die das Auge zuerst gefangen nimmt, bei aller handwerklichen Virtuosität, die einen verleitet, die Diskretion aufzugeben, und genau wissen zu wollen, wie sie gemacht sind, sind diese Bilder Anschaulichkeiten des Denkens. Sie sind Zeugen eines Lebensimpulses, nicht nur wissen, sondern verstehen zu wollen, was es mit unserer Wahrnehmung auf sich hat, die am Anfang aller Weltkenntnis und Weltzugehörigkeit steht.
So erscheint es mir nicht nur zulässig, sondern auch angemessen, einige Gedankenmotive zu skizzieren, die hinter, und in diesen Bildern wirken. Sind ihnen als ‚Engrammen’ doch selbst Gedanken ‚eingeschrieben’.
In seiner zur vorletzten Jahrhundertwende populären >Geschichte der Malerei< hat der Kunsthistoriker Richard Muther von Dürer gesagt, dessen Bilder seien mehr geschrieben, als gemalt. In unserer Zeit hat der französische Philosoph Gilles Deleuze gezeigt, dass diese Analogie auch in umgekehrter Perspektive möglich ist, und Texte wie Bilder behandelt. Und der Maler Gerhard Hoehme hat immer wieder betont, seine Bilder sollten ‚gelesen’ werden. In dieses Spannungsfeld von Schrift und Bild, das mehr ist als nur kunsttheoretische Rhetorik, versetzt Frank Hinrichs seine Malerei, mit ganzem Bewusstsein und entschiedener Absicht.
Sie ist eine Malerei, die Denken sichtbar macht. Nicht irgendeines; sondern ein Denken, das Wahrnehmen verstehen läßt.
Das gelingt in so beeindruckender Intensität, weil das Metier des Bildens für Frank Hinrichs eine Lebenspraktik ist.
Was persönliche Veranlagung, Neigung, Temperament und Intelligenz vorgaben, erhielt  prägende Anregung durch den bedeutendsten Impuls, den die Kunstpraxis zu der Zeit erhielt, als er sich auf den eigenen Weg machte. Der ‚plastische’ Impuls des Joseph Beuys wurde auch für Hinrichs während seiner Zeit an der Düsseldorfer Akademie bei Alfonso Hüppi prägend. Er führte zu der Grundentscheidung, das gemalte Bild als ein Objekt der Dreidimensionalität zu behandeln: ihm Raum nicht nur zu geben, sondern ihm zuzutrauen, Raum auch zu bilden.

Steffen Hinrichs - Nachklang
Bilder gehen Begriffen voran. Sie sind die Keimzellen der Gedanken, die sich im Geflecht der Begriffe verwirklichen. Bis diese schließlich nach Bildern verlangen lassen, die wieder verständlich zu machen haben, was sich in der Unanschaulichkeit der Abstraktion verlor. Die Sprache bewahrt diesen Zirkel der Erkenntnis genau, indem sie diese ‚Einsicht’ nennt. Ohne Anschauung keine Erkenntnis.
So sind Bilder Partituren, Anweisungen zur Veranschaulichung von Gedanken, deren begriffliche Fassung noch aussteht, oder stattgefunden hat, aber uneinsichtig blieb, oder die sich als unmöglich erwies.
Die Differenzierung zwischen beiden vollzieht sich entlang der Grenze jenes vorstellenden Denkens des Unbekannten, das als ‚Mythos’ Grundlage unseres Weltbewußtseins geblieben ist. Angesichts des Unbekannten, das als Wirklichkeit unumgänglich ist, entscheidet Frank Hinrichs sich nicht für die eine oder die andere der beiden anthropologischen Grundreaktionen, die Hans Blumenberg als ‚Flucht’ in den Begriff oder hinter das Bild unterschieden hat, sondern für beide. Daß er die Alternative nicht gelten läßt, macht ihn nicht nur zu einem philosophierenden Maler, sondern zu einem philosophischen.
Als denkender Künstler ergreift Frank Hinrichs nicht die Flucht, sondern stellt sich seiner Wirklichkeit, indem er sich in beide Sphären begibt.
Als Urform des erzählten Bildes entfaltet der Mythos, den es nur im Variationsfluß wiederholter Erzählung gibt, die Wahrheit des Seins: alles kann aus allem werden, nichts muß bleiben, wie es gerade ist; nichts ist, was es zu sein scheint. Das weckt Furcht, und birgt Hoffnung zugleich. Als eine Praktik freier Vorstellungskraft ist Malerei die Disziplin, Anschauungen nach außen zu kehren und vor Augen zu führen, die in den Erzählungen von der Welt enthalten sind.
Jede Vorstellung beruht auf der Unterscheidung eines Möglichen vom Wirklichen. Sie denkt und empfindet etwas, das es  - noch - nicht gibt, hinein in etwas, das - schon - vorhanden ist.
Auf ihre größte Herausforderung trifft die Einbildungskraft in der Konfrontation mit den Phänomenen der Mischung: unklaren Übergängen, fehlenden Konturen am Wirklichen, weichen Demarkationen und unbewachten Grenzen.
Dem Maler ist die Mischung als Grundgeste seines Handwerks altvertraute Lustqual. Mit jedem Bild stellt sich ihm die Aufgabe aufs neue, Stoffe in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen, deren Verbindung den erwünschten Effekt erreichen kann.
Die realistische Erwartung, mit der das anthropologische Erbe der Ungewißheit unserer Welt jedes Bild anschauen läßt, unterlaufen Hinrichs Bilder. Seine >Wegmarken< sind vor allem Studien der Uneindeutigkeit, des Unbegreifbar-Unbegreiflichen des als Bild Erfaßten, das trotz seiner plastischen Anwesenheit als Ding eine unüberbrückbare Ferne manifestiert - Sehnsucht und Unglück der Wahrnehmung zugleich. Denn sie zeigen nicht die Natur, die man in ihnen zu sehen meint, sondern die Spuren der Gesten, mit denen die Hand Farbe auf der Leinwand anordnete.
Jede Mischung vollzieht sich als Verwandlung ihrer Komponenten. Deren Ereignis aber ist exakt der Vorgang, den die Mythen als Metamorphose beschreiben.
Ovid ist Montaignes Gott, Heiner Müllers und auch meiner, schreibt Alexander Kluge in seinen Überlegungen zur >Kunst, Unterschiede zu machen<, und fügt erläuternd hinzu: Jede dieser Geschichten, dieser Märchen in den ‚Metamorphosen’ von Ovid ist vertrauenswürdiger als eine Nachrichtensendung von heute. Denn die Nachricht täuscht jene Wirklichkeitsgewißheit nur vor, an deren Unwahrscheinlichkeit die Bildkünste sich abarbeiten. Auch für Frank Hinrichs zählt Ovid, der Virtuose der Verwandlungen, deshalb zu seinen ‚Hausheiligen’.
So individuell unverwechselbar seine Arbeit ist, so sehr steht sie in einer ästhetischen und malerischen Tradition, auch ohne irgendeine direkte Beeinflussung einer ‚Schülerschaft’. 1956, in Hinrichs Geburtsjahr, veröffentlichte John Anthony Thwaites - seinerzeit einer der wichtigsten Anwälte der damaligen Avantgarde - in der Zeitschrift >das kunstwerk< eine Kritik jener Bilder, mit denen Emil Schumacher gerade dabei war, zu dem Maler zu werden, als der er heute seinen Platz in der Kunstgeschichte einnimmt, und charakterisierte sie als eine Kunst der Metamorphose.
Die wirklichen Kontinuitäten entfalten sich ohne direkte Bezüge und Wirkungen, als Kette individueller Bearbeitungen derselben Herausforderungen. So gewiß Hinrichs kein später Informeller ist, so sehr ist er ein reiner Maler, so, wie die Informellen reine Maler waren. Das Informel befreite die Malerei zur reinen Farbmaterialität. Das Gemälde kann seither ein ‚Ding’ sein, dessen Beschaffenheit vor Augen führt, woraus die Welt unseres Lebens als Universum der Dinge, derer wir uns bedienen, um zu existieren, besteht. Von dieser Lizenz macht Frank Hinrichs eigensinnig Gebrauch.
Die suggestive Intensität, mit der seine Bilder ihre raumbildende Kraft entfalten, ist die Wirkung dessen, was Hinrichs in Benjamins altem, aber nicht überholtem, Begriff der ‚Aura’ erfaßt findet. An ihm hält er mit nahezu programmatischer Entschiedenheit fest. Denn in ihm ist genau jenes Grenzphänomen bezeichnet, dem Hinrichs’ ästhetische Aufmerksamkeit vor allem gilt: die Ungreifbarkeit einer Gegenwart. So sehr auch tatsächlich erscheint, was sich in seinen Bildern zeigt, so verborgen und entzogen zugleich bleibt es. Die Schriften, die sie bergen, sind sichtbar; lesbar werden sie nicht. Die Verwandlungen erzeugen keine Eindeutigkeiten.
Gerade deshalb aber ist auch das umgekehrte Phänomen einer Anwesenheit des endgültig Abwesenden möglich. In dem Gemälde >Nachklang<, gelingt es Hinrichs, durch die eigenhändige Anverwandlung der Schriftgeste eines abgeschiedenen Menschen dessen individuellste Existenzspur noch einmal real gegenwärtig werden zu lassen – Unmögliches wird Ereignis. Zu doppeltem ‚Nachklang’: eines Lebens, das endete, und jener Mythen Ovids, die das Ereignis des Unmöglichen als Verwandlung beschworen.
War Benjamins Begriff der einmalige(n) Erscheinung einer Ferne, so nah sie sei, bei aller materialistischen Tarnung seiner Theorie unverkennbar vom messianischen Modell eines alles verwandelnden Eingriffs in die Welt, der sie läßt, wie sie ist, und sie doch zur Erlösung verwandelt, theologisch geprägt, so wird die Geste der Verwandlung in Hinrichs Malerei anthropologisch. Der Prozeß von Wahrnehmen – Denken – Bilden – Wahrnehmen, den sie durchläuft, re-produziert den kulturellen Prozeß der Erosion der Wirklichkeit durch ihre Bearbeitung, bei gleichzeitiger Sicherung für menschliche Daseinszwecke. Was die Zivilisation des Existierens an Wirklichkeit aneignet, unterzieht die Vorstellungskraft des Malers einer entrückenden Anverwandlung. Denn das Bild ist immer beides: Zeuge und Ersatz des Wirklichen.

Andreas Steffens im Gespräch mit Frank Hinrichs
Foto © Shahin Damizadeh
Die mediale Kulturkritik, die heute gerne das Verschwinden der Wirklichkeit in den virtuellen Bildern beklagt, übersieht, dass diese Gleichzeitigkeit von Erscheinen und Verschwinden der Grundvorgang aller Leistungen menschlicher Erhaltung in einer unbekannten Welt ist. Das Bild repräsentiert die Distanz der bei aller Verfügung immer unbewältigt bleibenden Wirklichkeit, die die Zivilisation der Hand, die fernhält, um zu bearbeiten, herstellt, damit eine bewohnbare Welt entsteht.
Gäbe es so etwas, so wäre dies das ‚Thema’ der Malerei Frank Hinrichs’.
 
Kunstverein Duisburg
Galerie Weidenweg: Weidenweg 10: 47059 Duisburg-Ruhrort
Öffnungszeiten: Do - Fr - Sa 17.30 – 20 Uhr, Tel.: 0203-7187841