Der alte Mann und sein Hund (43)

1 Minute 27 Sekunden

von Erwin Grosche

Kotelett mit Spargel - Foto © Rolf Handke / pixelio.de
Der alte Mann und sein Hund (43)
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Sie liefen durch den Haxtergrund und sein vierbeiniger Gefährte stand schnell vor dem Gasthof Weyher, dessen automatische Eingangstür sich bei seinem Erscheinen von selbst öffnete. Der alte Mann suchte Herrn Weyher und war froh, daß dieser grade aus der Küche kam. „Ich habe gehört“, platzte es aus dem alten Mann heraus. „daß es bei ihnen kein Kotelett mehr geben soll!“ So war es ihm zugetragen worden und deshalb war er hier. „Ein Gasthof Weyher ohne Kotelett“, sagte er weiter, „ist genauso unvorstellbar, als wenn sie plötzlich am Freitag geöffnet hätten oder es den Apfelkuchen von ihnen nur noch mit Birnen geben würde“. Herr Weyher schaute auf den Boden. „Wir haben zu wenig Personal“, sagte er. „Wie sollen wir so die Spargelzeit, die Grünkohlzeit und die Weihnachtszeit überstehen?“ Der alte Mann schüttelte verwirrt den Kopf. Er war ein guter Gast, aber kein guter Gastronom. „Es ist so“, kam Herr Weyher endlich auf den Punkt, „daß wir für ein Kotelett 1 Minute und 27 Sekunden länger brauchen, als wenn wir ein Schnitzel braten würden. Diese Zeit haben wir nicht.“ Der alte Mann schaute auf seinen Hund. Er wußte wie lange 1 Minute 27 Sekunden sein können. Er hatte mal bei einem Hundestreichelwettbewerb seinen Hund 1 Minute und 27 Sekunden lang gestreichelt bis dies selbst seinem Hund zu viel geworden war. „1 Minute 27 kann einem lang vorkommen“, murmelte der alte Mann. Er wußte, daß auch der Holländer Kirsch vom Café Pflückebaum nach einer Minute 27 viel von seiner Ausstrahlung einbüßte. Man mußte einen Holländer Kirsch sofort essen, sonst verlor der Blätterteig an seiner Selbstsicherheit. Der alte Mann hatte eine Idee. „Was wäre denn“, fragte er, „wenn wir Kotelett-Liebhaber in der Küche erschienen und ihnen für 1 Minute 27 zur Hand gingen, dann hätten sie die Zeit wieder um Kotelett anstatt Schnitzel anbieten zu können?“ Herr Weyher lachte. „Nichts gegen meine Stammkundschaft“, sagte er, „aber in einer Minute und 27 Sekunden kann auch viel Unheil angerichtet werden.“ Der alte Mann nickte. Hatte nicht auch der Tornado am 20. Mai 2022 eine Minute und 27 Sekunden gebraucht um in der Paderstadt eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen? Erst jetzt, drei Jahre später, waren fast alle Schäden beseitigt worden und man ging wieder ohne Angst durch das Paderquellgebiet. Vielleicht brauchte auch Herr Weyher Zeit um dieses Kotelett-Trauma zu überwinden. Nach einer Woche meldete sich Herr Weyher beim alten Mann um ihm eine gute Nachricht zu übermitteln. „Es gab jeden Tag so viele Anfragen wegen der Kotelett-Sperre, daß ich in der Zeit gut und gerne Dutzende Koteletts hätte machen können“, sagte er. „Wenn wir einfach die Beschwerden zurückfahren, dann könnten wir wieder durchstarten und für alle Koteletts machen.“ So geschah es auch und Weyhers boten wieder Koteletts an. Bei seinem nächsten Besuch umarmte der alte Mann den jungen Herrn Weyher und zwar genau eine Minute und 27 Sekunden lang. So viel Zeit mußte nun einfach sein.
 
© Erwin Grosche