Kinderficker!

„Das Fest“ von Thomas Vinterberg & Mogens Rukov im Schauspiel Wuppertal

von Frank Becker

Das Ensemble - Foto  Björn Hickmann

Kinderficker!
 
Schuld und späte Sühne
 
„Das Fest“ von Thomas Vinterberg & Mogens Rukov
 
Leitungsteam:Jenke Nordalm (Inszenierung) - Vesna Hiltmann (Bühne & Kostüme) - Ulf Steinhauer (Musik) - Elisabeth Hummerich (Dramaturgie) - Tom Dockal (Regieassistenz) - Ilja Betser (Inspizienz) - Anna Jurczak (Kostümassistenz) 
Mit: Stefan Walz (Helge, Vater) - Julia Wolff (Else, Mutter) - Alexander Peiler (Christian, ältester Sohn) - Konstantin Rickert (Michael, jüngster Sohn) - Julia Meier (Helene, jüngere Tochter) - Paula Schäfer (Pia, Bedienstete / Linda, tote Schwester) - Silvia Munzón López (Mette, Michaels Frau) - Celine Hambach (Marijoh, Helenes Geliebte) - Thomas Braus (Helmut, Toastmaster) - Kevin Wilke (Kim, Hausvorstand)
 
Den statistisch nachgewiesen erschreckend allgegenwärtigen sexuellen Mißbrauch von Kindern innerhalb der Familie sowie dessen Vertuschung zu einem Film und vor allem einem Bühnenstück zu verarbeiten verlangt Fingerspitzengefühl und Mut. Thomas Vinterberg hat in seinem 1998 gedrehten Film „Festen“ die Entlarvung eines solchen Jahrzehnte zurückliegenden und bei den Betroffenen nachwirkenden Verbrechens anläßlich einer Familienfeier rückhaltlos zum Thema gemacht.
 

„Bist du denn zu nichts zu gebrauchen!!?“ Konstantin Rickert und Silvia Munzón López  - Foto  Björn Hickmann


Auf etwas zu großer Bühne mit per Licht definierten Nebenschauplätzen ist eine Tafel angerichtet, die auf den ersten Blick an da Vincis „Abendmahl“ denken läßt. Helge (in schwieriger Balance souverän: Stefan Walz) wird 60 und hat zum Fest ins familieneigene Hotel eingeladen. Die noch lebenden Angehörigen (Tochter Linda hat sich das Leben genommen) und Freunde erscheinen samt Partner/in, ob eingeladen oder auch nicht wie der cholerische jüngste Sohn Michael (explosiv bösartig: Konstantin Rickert) mit seiner unterdrückten Ehefrau Mette (brillant zwischen Kleinmut und Kontra wechseln: Silvia Munzón López) die schließlich auch auszuteilen weiß. Der ältere Sohn Christian, Lindas Zwillingsbruder (wirkungsvoll voll brodelnder Wut: Alexander Peiler), wird schließlich die ganz, ganz kurze Lunte zünden und den Stein zum Zerfall der Familie zum Rollen bringen. Auch die jüngste Tochter Helene (tief berührend: Julia Meier), sie scheint tief traumatisiert, ist gekommen, allein zunächst, doch ihre schwarze Partnerin Marijoh (Céline Hambach) kommt später dazu und sieht sich üblen rassistischen Angriffen Michaels ausgesetzt.
 
Das Fest kann trotz knisternder Konflikte beginnen, der krampfhaft um gute Stimmung bemühte Toastmaster (glänzend: Thomas Braus) erscheint und vergibt die erste Rede an Christian, der wohlüberlegt und mit expliziten Details vom gegenüberliegenden Kopf der Tafel aus den Vater anprangert, ihn und seine Zwillingsschwester über Jahre mißbraucht zu haben. Die Gesellschaft und das Publikum erstarren für einen Moment, bis der alte Automatismus greift und unter reichlich fließendem Alkohol die Anklage unter den Tisch gewischt und unter Hurra! der Vater und in Polonaise „Das schönste Fest!“ weiter gefeiert werden. Doch die Attacken werden nicht nachlassen, Mordvorwürfe gegen Helge, harsche Beschuldigung der Mutter Else als Mitwisserin des Mißbrauchs (in zerbröselnder Vornehmheit: Julia Wolff) und der Fund eines offen verlesenen Abschiedsbriefes Lindas, die ihrem Leben wegen erneuter väterlicher Vergewaltigung ein Ende setzte, vernichten schließlich das Fest und den schönen Schein. Die Familie zerfällt. Was bleibt ist lähmender Katzenjammer.
 

Das schönste Fest - v.l.: Thomas Braus, Konstantin Rickert, Julia Wolff, Julia Meier, Stefan Walz, Silvia Munzón López  - Foto  Björn Hickmann

Ein hoch motiviertes Ensemble trug das quälende Stück über die gut zwei Stunden (inkl. einer Pause) seiner Dauer mit den Glanzlichtern Alexander Peiler, Paula Schäfer (in der Charakter-Nebenrolle der Bediensteten Pia) und vor allem Julia Meier zum Erfolg. Denn die Höhepunkte des Abends schlechthin wurden zwei Songs: zunächst das kryptisch-zweideutig angelegte „My Heart Belongs to Daddy“ von Cole Porter mit Julia Meier und der Ukulele und gegen Ende Hoagy Carmichaels All-Time-Standard „Two Sleepy People“ bei dem Julia Meier den Flügel streichelte wie weiland Bill Miller bei Frank Sinatras „One For My Baby“. Mit diesen beiden brachte sie erneut ihre hohen Qualitäten nicht nur als Schauspielerin und Sängerin, sondern auch als Multiinstrumentalistin zur Geltung. Allein dafür würde es sich lohnen, die Inszenierung zu besuchen.