Sprachlos komisch (9)

Bildergeschichten ohne Worte - von Adamson bis Ziggy

von Joachim Klinger

Klinger © Klinger
Sprachlos komisch (9)

Bildergeschichten ohne Worte
- von Adamson bis Ziggy -


Auf der Suche nach den Bildergeschichten ohne Worte und ihren Protago­nisten haben wir manche Entdeckung gemacht. "Fäustchen" zum Beispiel dürfte nur noch in der Erinnerung weniger Menschen leben. Wir sahen, wie der komische Kleinbürger abgelöst wird durch Gestalten anderer Art: das Murmeltier Max, den kleinen Engel. Um die Wirkungsbereich der Comic-­Figur zu verändern und möglichst auszudehnen, werden Persönlichkeiten mit anderen Kompetenzen eingeführt. Das mag ein König sein oder ein Engel, eine Geistergruppe (die Schreckensteiner) oder ein Tierkobold. Problema­tisch bleibt der Auftritt einer Personengruppe, es sei denn ein Einzelner erhält die tragende Rolle (Dackel Willi und Familie Kaiser) oder mehrere Personen stellen eine notwendigerweise gemeinsam handelnde Gemeinschaft dar (die 5 Schreckensteiner, wobei die drei Herren die Hauptakteure sind).
 
Comic-Figuren sind in der Regel komisch und bewirken mit ihrem Auftritt dem Clown gleich Lachen oder Schmunzeln. Es kommt vor, daß sie ihr komi­sches Erscheinungsbild aufgeben, fast Mitleid

© Joachim Klinger
erregen oder Nachdenklich­keit auslösen, so wie das gebeugte Männchen mit der Gurkennase bei Bosc.
Und ein Comic kann auf Aktivitäten von Gestalten fast ganz verzichten, wie die Geschichte mit dem herbstlichen Blatt von Sempé gezeigt hat. Wie in der Kunst alles möglich ist, so sind auch stummen Comics keine Gren­zen gesetzt. Ja, es könnten sich ihnen neue Chancen eröffnen, da die Men­schen, vom Tempo, Lärm, Hektik, Stress u.a. ermattet, Augenblicke der Stille suchen. Die Wahrnehmung dieser Chancen sollte sich nicht am Leit­bild der Unterhaltung orientieren (wie das Fernsehen). Comics können bei­spielsweise mit einem Verblüffungseffekt andersartige Perspektiven des Lebens sichtbar machen, ungewöhnliche Bereiche wie den der Religion an­sprechen oder Dimensionen des Fremdartigen / Surrealen aufreißen. Das klingt anspruchsvoll, aber die stumme Bilderfolge wird damit keineswegs überfordert. Ein überzeugendes Beispiel liefert Paul Kirchner mit den Bildfolgen seiner "Phantastischen Irrfahrt in Bildern", die sich allesamt um den Bus drehen. Die 1987 im Goldmann-Verlag erschienene Sammlung trägt den Titel "Der Bus". Zwar tritt in der Mehrzahl der Bilderfolgen ein rundlicher Herr mit Glatzkopf und Hornbrille auf, dominierend aber ist der Bus, ein Monstrum, das für jede Überraschung - auch die schrecklichste - gut ist.
 
Schlimmes kann im Bus passieren. Da setzt eine alte Frau, die keinen Platz mehr findet, ihre große Einkaufstüte vor unserem zeitungslesenden Glatz­kopf ab und nach und nach verschwindet dieser, unbemerkt von seinen Sitz­nachbarn, darin, sodaß die alte Frau einen Sitzplatz bekommt. Ein anderes Mal schrumpft der Sitznachbar des Dicken so schnell und sichtbar, daß ihm dieser bei der Auslösung des Haltesignals behilflich sein muß. In beiden Fällen bleiben alle Menschen absolut teilnahmslos.
Busse gibt es in großem Format und ganz klein, als Spielzeug. Vor einem Spielzeugladen wartet die Comic-Figur auf den Bus und betrachtet angele­gentlich die Gegenstände im Schaufenster. Steht da doch vor dem Spiel­zeugladen einer Mini-Stadt ein kleiner dicker Mann mit Glatzkopf und Hornbrille! Und schaut sich um, nun sein riesiges Ebenbild erblickend...
Busse müssen zum Teil wie ein Wild erlegt bzw. zum Stehen angehalten werden. Unser Glatzkopf wirft einen Speer mit dem Halteschild – und schafft es.
Busverkehr erfaßt alle Bereiche - so darf man hoffen. Der Glatzkopf - in einer Gefängniszelle gelandet - zeichnet mit Kreide ein Bus-Stop-Schild an die Wand. Schon bald fährt ein Bus vor und befreit den Wartenden. Ein Bus kann als Vision erscheinen, für einen Augenblick Realität werden und Fahrgäste aufnehmen. Er kann völlig in sich zusammenfallen, wenn ein Reifen die Luft verliert; übrig bleibt - trotz der Fahrgäste - nur eine leere Hülle flach auf dem Boden.
Oder: Der Glatzkopf steigt aus und sieht, vor dem Bus stehend, in einen Theatersaal mit interessiertem Publikum. Er steigt rasch wieder ein und gerät nun in die Kulisse; der Bus ist eine Attrappe. Aber eben fuhr er doch noch...
Der Glatzkopf weist einen Jüngling darauf hin, daß er auf einem Platz sitzt, der für ältere Menschen reserviert ist. In Sekundenschnelle altert der Jüngling und sitzt als hinfälliger Greis auf dem Senioren-Platz.
Busse treten auch allein auf, sammeln sich auf einer Riesenfläche, stehen dicht gedrängt Dach an Dach und verschmelzen. Die noch linear struktu­rierte Fläche geht in Leere über...
Ein Kapitel widmet Paul Kirchner dem "Glauben vom Tod und dem Leben da­nach".
Das Bild "Dienstende" zeigt einen stark ramponierten Bus, der Benzin ver­liert, ein zweites Bild "Klauen des Todes" begleitet ihn auf dem Weg in die Weiterverwertung. Es folgen die Stationen "Die letzte Reise", "Geweihte Erde", "In der Geistesschmiede" und "Materielle Wiederkehr". Auf dem Bild "Reinkarnation auf höherer Ebene" glänzt uns ein neuer Bus entgegen.
Sein Schild zeigt nicht mehr die Aufschrift "Shuttle", sondern weist ihn als "Express"-Bus aus.
Wenn eine Zeichnung zum Kreisverkehr die Frage der Willensfreiheit auf­wirft, dann beweist das den Spielraum der Comics im existenziellen Bereich. Anstöße zur Reflexion!
 
Die Darstellung verschiedener Beispiele von Comic-Figuren und Bilderge­schichten ohne Worte hat

© Joachim Klinger
wesentliche Elemente ihres Erfolges und damit auch Grundbedingungen für die gewünschte Wirkung zusammengetragen. So läßt sich an die Frage herangehen, wie Comics angelegt sein müssen, wie sie "gebaut" werden sollten.
Bildergeschichten ohne Worte müssen kurz sein. Sie umfassen in der Regel zwei bis sechs Einzelbilder (Ausnahmen von der Regel können Künstler wie Silverstein und Sempé erfolgreich praktizieren!). Mit wenigen Bildern muß eine ganze Geschichte erzählt werden. Kürze und Sprachlosigkeit unter­scheiden diese Bildergeschichten von den ausführlichen Comic-Strips mit ihren oft mitreißenden Abenteuern, phantastischen Zukunftsvisionen, Märchenwelten usw. Die ausführlichen Comic-Strips werden geradezu von Wortkaskaden überschwemmt und schwelgen in opulenten, meist farbigen Bildern. Mit der Opulenz von Sprache und Bildern stehen sie im Kontrast zur Kargheit der stummen Bilderfolgen. Diese wirken mausgrau und ärmlich im Verhältnis zu den Seite um Seite füllenden Comic-Strips der großen Se­rien mit Mickey Mouse, Donald Duck, Batman, Asterix, Tintin et Milou (Tim und Struppi) u.a.m.. Kürze zwingt zur Konzentration und Präzision, zur Ökonomie in Planung und Ausführung. Dies gilt sowohl für die Form als auch für den Inhalt der Bil­dergeschichte.
 
Die Einfachheit der Linienführung und die "trotzdem" bewirkte Dichte der Komposition lassen den befähigtsten Zeichner, den Meister, erkennen. Ja­cobsson und Giaccometti, Effel und Sempe, Möllendorff und Kossatz sind hier zu nennen. Aber wenn man eine Reihe von hochbegabten Künstlern zu­sammenstellt, erkennt man auch Begabungsstufen. Erich Ohser (e.o. Plauen) und Sempe erringen plötzlich Spitzenpositionen - und das hängt nicht nur mit den Zeichnungen als solchen, sondern mit der ihnen innewohnenden Ko­mik zusammen. Ich möchte hier den Begriff "Tiefe des Humanen" einführen und damit Dimensionen von Geist und Herz, Gemüt und Reflexion zusam­menfassen.
Eine knapp erzählte Geschichte verlangt besondere Aufmerksamkeit, Mit­denken und Kombinationsvermögen. Seit der Erfindung des Films wissen wir: Wenn nur 16 Phasen einer eine Sekunde dauernden Bewegung in einer Se­kunde vorgeführt werden, sieht das Menschenauge die Bewegung trotzdem im homogenen Zusammenhang und nimmt sie als einheitlichen Ablauf wahr. Das menschliche Auge läßt sich wegen seiner Trägheit täuschen oder über­listen.
Der Zeichner der Bildergeschichte darf damit rechnen, daß der Mensch die wenigen Bilder einer Szene oder eines Handlungsablaufs im Kopf er­gänzt und beim Betrachten in Gänze rekonstruiert. Er sieht Fehlendes mit, wenn die Bilder geschickt arrangiert sind, und erfaßt die Story.
Der Zeichner spekuliert also auf Interesse, Geduld, Geist und Phantasie des Betrachters. Was darf er ihm zumuten? Wieweit darf er mit der Ver­kürzung gehen?
Die stumme Bilderfolge gibt ihren Inhalt sozusagen in großen Sprüngen preis.. Das bewußte Auslassen von Zwischenstufen bedeutet eine Verrät­selung und kann damit den Reiz der kleinen Geschichte steigern. Der Be­trachter wird neugierig gemacht und zur Entschlüsselung gedrängt. Ande­rerseits kann der gewitzte Konsument die Story in "Häppchen" genießen und sozusagen auf der Zunge zergehen lassen.
Das Prinzip der Häppchen wohnt jeder Bildergeschichte inne, aber die lan­gen Comic-Strips mit meist rasanten Handlungsabläufen stellen rascher den Zusammenhang her. Im übrigen kommt die Sprache hinzu. Kurze Bildergeschichten sind inhaltlich hoch konzentriert, sie verdichten die Story so sehr, daß sie geradezu dechiffriert sein will, und zwar Bild um Bild, damit die "Botschaft" verstanden wird.
 
Führt der Zeichner eine Comic-Figur ein, die als "Serienheld" agieren soll, dann hilft es dem Betrachter, wenn er den Charakter der Figur kennen­lernt. Was ist dem "Männchen" zuzutrauen? Im ersten Bild der kurzen Geschichte kann bereits eine Gedankenkette ausgelöst werden, die ein mögliches Ergebnis konstituiert, ein Ende vorweg­nimmt, ohne die Neugier und die Erwartung zu reduzieren.
Beispiel: Adamson betrachtet nachdenklich einen tropfenden Wasserhahn. Wer Adamson kennt, der weiß, daß er nun rasch zur Reparatur schreiten und dabei scheitern wird. Über das Ausmaß des Mißlingens ist man sich im Unklaren, und das erhöht die Spannung. Tatsächlich beginnt der Wasserhahn nach einem kräftigen Zangengriff ei­nem Springbrunnen gleich Wasser zu verspritzen. Aber das ist noch nicht alles. Bild 6 zeigt Adamson, wie er von einer großen Welle erfaßt aus dem Fenster gespült wird. Das Erwartete stellt sich im Grundsatz ein – wird aber noch durch ein Unerwartetes übertroffen. Der Fehlschlag nimmt die Dimensionen einer Katastrophe an. So kommt es zum Überraschungs- und Lacheffekt.

© Joachim Klinger
"Ich habe es kommen sehen," sagt sich der Betrachter; gleichzeitig freut es ihn, daß es noch schlimmer gekommen ist. Diese Schadenfreude bela­stet sein Gewissen nicht, denn es ist ihm klar, daß Adamson zwar pitsch­naß, im übrigen aber unverletzt aus der Rohrbruch-Katastrophe hervorge­hen wird.
Neben der Zufriedenheit, daß er selbst vor derartigen Pechsträhnen be­wahrt worden ist, stellt sich ein wohltuendes Überlegenheitsgefühl gegen­ über Adamson ein. Man ist halt ein bißchen intelligenter, umsichtiger, ge­schickter usw.  Der ein Schmunzeln oder Lachen auslösende Überraschungseffekt wird bei Adamson häufig verstärkt durch seine Rat- und Hilflosigkeit, die ihn gleichsam erstarren läßt. Er geht nicht in die Luft wie Dagobert Duck; er scheint zu versteinern, sei­ne Augen stieren verzweifelt ins Leere, sein Zigarre qualmt wie ein Fabrikschlot! In dieser komischen Situation diese traurige Gestalt - ein belusti­gender Gegensatz! Ein besonderer Akzent dieser und anderer Geschichten ist die Aushebelung von Naturgesetzen. Adamson wird vom Wasser nicht zu Boden gedrückt, sondern aus dem Fenster geschleudert. Ein anderes Beispiel war Adamsons Schnelligkeit, um die weggeworfene Zigarre aufzufangen; da wurde die Ge­schwindigkeit nach dem Gesetz des freien Falls vom Comic-Helden übertroffen.
 
Denken wir an die beiden Beispiele von "Pitt" - der Fall des Stahlträgers und der Metallkugel, die katapultiert werden soll. Die Herbeiführung eines Mißgeschicks, das der Betrachter als unaus­weichlich erkennt und im Prinzip voraussieht, während sich die Comic-Figur noch abplagt, ist ein gängiges und beliebtes Grundmuster der Bilderge­schichte ohne Worte.
Ähnlich der Clown im Zirkus! Er handelt häufig nach der Devise: Versuch es mal, es wird schon schiefgehen! Dabei stellt er sich tapsig an, lächelt sie­gesgewiß - und wird doch zum Verlierer, der über sein Unglück staunt.
Der Zuschauer lacht aus der Position des Besserwissers. Aber er weiß auch: dies ist ein Spiel! Die tragische Dimension des Scheiterns trotz größter Bemühungen wird ihm gleichwohl nahe gebracht. Also lacht er "trotzdem"!


© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Folgen Sie nächsten Sonntag weiter dem Vater der Geschichten von "Julle und Vatz" bei seinen Betrachtungen über Bildergeschichten, Comics und Cartoons.

Redaktion: Frank Becker