Kleinstadt-Skandal

Hans-Jürgen Perrey - "Die große Wut des Christoph Martin Wieland"

von Frank Becker
Kleinstadtskandal

Man denkt natürlich, kaum daß man sich in die Novelle Perreys verstrickt hat, an Beethovens "Wut über den verlorenen Groschen". Denn um etwas verlorenes geht es hier auch. Der Hofrat Wieland, ein berühmter Mann seiner Zeit und in Gunsten des Weimarer Hofes, hat bei einem Spaziergang sein kostbares Spanisches Rohr, ein Prachtstück mit goldenem Knauf und schwarzseidener Quaste eingebüßt, verbummelt, um genau zu sein. Wir Leser haben dem Verfasser der "Geschichte der Abderiten", des "Agathon" und dem Dichter des "Oberon", an dem er 1779 feilt, den Informationsvorsprung voraus, daß wir wissen, wo und wann er seinen geliebten Stock gelassen hat. Aber das hilft weder ihm noch uns.

Weimar 1779 also. Man stelle sich vor: Herder Musäus und Merck, Bertuch, Wieland und Goethe (und ein paar mehr) halten sich in dem Residenzstädtchen, das kaum mehr als ein Kaff mit 6.000 Seelen ist auf, lehren, forschen, dichten, schaffen Kultur und legen den Boden für die gesamte deutsche Literatur. Wielands bis zu Goethes Eintreffen unangefochten hoher Rang hat den einen oder anderen Riß bekommen, seit der junge Olympier sich anschickt, ihn in der Hierarchie zu überholen. Wieland istt also nicht eben bester Laune. Nun auch noch das: während eines Spaziergangs, bei dem er vor hereinbrechendem Gewitterregen flüchten muß, verschusselt er sein geliebtes Spanisches Rohr, das so ausgewogen in der Hand lag. Was tun?

Hans-Jürgen Perrey entwirft mit der höchst amüsanten Novelle um den Hitzkopf Wieland, der sich stolz und starrsinnig in eine angenommene Intrige verrennt, mit kurzweilig kundigem Kleinstadt-Tratsch ein treffliches Bild Weimars und seiner Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, ja richtet den Blick dabei weit über die regionalen Grenzen hinaus auf die Kulturlandschaft der deutschen Kleinstaaterei. Unnötige sprachliche Schnitzer wie der häßliche Anglizismus "Du erinnerst diesen Freitag noch genau..." (S.18) wären vermeidbar, ist Perrey doch ein eleganter Beherrscher der deutschen Sprache. Hier ist der Lektor gefordert.

Despotisch, kauzig-eigenwillig und sinnenfroh läßt Perrey Wieland, einen "Bewunderer und Verehrer des schönen Geschlechts" durch die hartnäckig verteidigten selbstgemachten Irrtümer stolpern, sich einer Klage aussetzen, derweil manch gutes Gespräch führen und etliche ordentliche Tropfen - da ist Goethes Wein durchaus willkommen - trinken. Elegant umschifft Perrey die Klippe einer möglichen Begegnung mit dem Wirklichen Geheimen Rat.
Und das Spanische Rohr? Nun ja, es gibt eine Lösung. Aber Sie sollten sich nicht entgehen lassen, das selber zu lesen.

Beispielbild
Wieland 1779 - Gemälde von Georg Oswald May

Hans-Jürgen Perrey
Die große Wut des Christoph Martin Wieland


Novelle

© 2008 Gollenstein Verlag

181 Seiten, Maße: 19,5 cm, Gebunden
16,90 €
ISBN: 9783938823347

Weitere Informationen unter:
www.gollenstein.de