Sprachlos komisch (7)

Bildergeschichten ohne Worte - von Adamson bis Ziggy

von Joachim Klinger

Jochim Klinger © Joachim Klinger
Sprachlos komisch (7)

Bildergeschichten ohne Worte
- von Adamson bis Ziggy -


Geht das "Original", das Individuum mit ausgeprägter Persönlichkeit, mit erstaunlichen Stärken und verzeihlichen Schwächen im Cartoon und Comic­ Strip verloren? Nicht, wenn wir auf Andy Capp und Asterix blicken! Aber "die Stillen im Lande"? Was für Typen bringt die Welt der Technik und Vermassung hervor? Robo­terhafte Arbeiter, überforderte und nach Dienstschluß abgeschlaffte Ge­stalten, die im zermürbenden Alltag den letzten Rest von Würde einbüßen?

Bosc

Einer kümmerlichen Existenz hat der melancholische Franzose Jean­
Maurice Bosc (geboren 1924, Freitod 1973) teilnahmsvolle Beachtung ge­widmet. Das Männchen ist unauffällig - die Nase

© 1964 Diogenes Verlag
ausgenommen. Sie ist übergroß, eine unförmige Gurke und schwere Last. Wie ein Gewicht zieht sie den Kopf auf die Brust des Mannes, der Rücken wird krumm, die Gestalt hinfällig. Hoffnungslos brütend hockt er in seinem
Sessel und stiert auf den Boden. Schließlich faßt er einen Entschluß, steht auf und geht zu dem anderen, wenige Schritte entfernten Sessel. Dort läßt er sich nieder, um dieselbe Haltung der Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit einzunehmen. Das ist alles!
Benjamin Henrichs hat in einer Würdigung des großen Karikaturisten seine Sesselgeschichten in die Nähe von Becketts Theaterstücken gerückt:
„Boscs Sessel ist wie Becketts Mülltonne: das Bühnenbild zu ein­samen Endspielen, wo man hockt, wenn alles Denken, alles Leben schwindet."

© Joachim Klinger
Die Frage drängt sich auf: ist das
noch komisch? Die Comic-Figur prakti­ziert hier letzten Ernst: Benjamin Henrichs hat Recht, wenn er die Sessel­geschichten abschließend folgendermaßen charakterisiert:
"Zu müde, einen Witz zu erzählen, erzählen sie die Wahrheit."
Erreichen die wortlosen Comic-Strips damit einen Endpunkt und treten in ihre Endzeit ein? Aber: ist die Kunst, und Cartoons und Comics gehören ja dazu, jemals "am Ende"?
 
Die amerikanischen Zeitungs-Cartoons

Schauen wir uns weiter nach Bildergeschichten ohne Worte um und befra­gen das Werk bedeutender Cartoonisten! Eine große Zahl von ihnen lebt in
den USA und beliefert die zahlreichen Zeitungen und
 
© Joachim Klinger
Zeitschriften. Die Fülle der Cartoons und Comic-Strips, aber auch der "Themen" und Stilrich­
tungen ist kaum zu fassen, und es gehen immer neue Impulse von den USA aus.
Zu den "ganz großen" Zeichnern gehören Saul Steinberg (1914-1999) und James Thurber (1894 -1961). Beide haben Generationen von Karikaturisten und Cartoonisten beeinflußt und der Zeichenkunst neue Bereiche erschlos­sen. Philosophische Grundstimmungen und psychologische
 
© 1948 Rowohlt Verlag
Erkenntnisse sind
ebenso in ihr Werk eingeflossen wie poetische Phantasien und kalligraphi­sche Experimente. Sie haben auch - wenngleich nur vereinzelt – wortlose Bildergeschichten geschaffen. Wer Gedanken ausdrücken will, findet in der grafischen Kunst hierfür adäquate Formen. Die erzählerische Struktur von Comic-Strips meidet er im allgemeinen.
 
Steinberg, Thurber, Silverstein & Co.

Aber es gibt viele Erzähler unter den Zeichnern.
Shel Silverstein (1930-1999) betrachtet mit einem lächelnden und einem weinenden Auge die eifrigen Anstrengungen der Menschen, die sich als aussichtslos erweisen. Die Menschen seiner Comic-Strips sind Scheiternde und Gescheiterte, die den Schein des Wohlbefindens auf­rechterhalten möchten.
 
© 1945 Steinberg/
© 1947 Penguin Books
Beispiel: Der Humorist trägt Jahr um Jahr seine Texte zum Lektor und er­hält sie stets als unbrauchbar zurück. Endlich erzielt er als alter Mann beim inzwischen sichtbar gealterten Lektor den ersehnten Lacherfolg. Doch die­ser fällt so heftig aus, daß er zu einem tödlichen Herzanfall führt. Letzte Szene: der mickerig-vergreiste Humorist sitzt einem neuen jungen Lektor gegenüber; dieser reicht die Blätter nach kurzem Augenschein unbeein­druckt zurück. Eine Tragödie, die aus 32 Einzelbildern besteht, und die Ge­fahr des Totlachens bei humoristischen Arbeiten beschwört.
Oder: der Schwächling, der seine Freundin an einen Athleten verloren hat, stählt seinen Körper durch sportliche Übungen so lange, bis er dem kraft­ vollen Konkurrenten gewachsen ist. Doch der nun attackierte Nebenbuhler zieht eine Pistole... (19 Einzelbilder)

© Joachim Klinger
Oder: „ein stiller Mensch", der sein ganzes Leben lang angeschrieen wird, bis
er - im Verlauf seines Leidensweges immer mehr geschrumpft und hinfälli­ger geworden - davon schleicht und dahin schwindet. Zeichnung Nr. 34 zeigt nur noch Mantel und Hut, sie liegen auf der Erde, eine kümmerliche Hinterlassenschaft...
Es ist nicht viel los mit uns, und was wir tun, ist meist vergeblich - Silver­steins Botschaft. Seiner melancholischen Sicht entsprechend sind die Handlungstypen angekränkelt, von Schwäche und Verfall gezeichnet. Der Strich seines Zeichenstifts ist fahrig-zitterig und zugleich adäquat. Seine Gestalten befinden sich in voller Übereinstimmung mit den Aussagen seiner Bildergeschichten. So und nicht anders müssen sie aussehen!
 
Ronald Searle und der britische schwarze Humor

"Schwarzen Humor" bringt man mit England in Verbindung. Der 1920 in Cambridge geborene Ronald
 
© Joachim Klinger

Back to the
Slaughterhouse
© 1951 Macdonald
London
Searle hat in den 50er / 60er Jahren die pu­bertierenden Insassen eins Mädchenpensionats (St. Trinian) in seine Bil­dergeschichten geholt. Allerdings handelt es sich um Zusammenstellungen von Einzel-Cartoons mit frechen Sprüchen. (Wortlose Comics von Searle sind mir nur ganz vereinzelt begegnet.) Diese jungen Mädchen entlarven bigotte Erzieherinnen und verachten ehrwürdige Lehrerinnen (besser ge­fällt ihnen die Chemie-Lehrerin: eine auf dem Besen reitende Hexe!). Fröh­lich-frivol und lustvoll-brutal treiben sie ihr Unwesen und rauben den mei­sten Erwachsenen ihren "letzten Nerv". Searles Gestalten kennen sowohl die stilistische Verknappung
- manchmal sind sie geradezu ein boshaftes Kürzel - als auch überbordende Opulenz. Immer sind sie aber "getroffen" und erzeugen die ihnen innewohnende Wir­kung.
 
Kurt Halbritter


© 1965 Bärmeier & Nikel
Der Deutsche Kurt Halbritter (1924-1978) hat mit seinem "Tagebuch einer Minderjährigen" eine Göre in das sündhafte Leben dieser Welt gerufen, die in das Internat von St. Trinian gepaßt hätte. 1965 hat der Verlag Bärmeier & Nikel (Gott habe ihn selig!) eine Bilderfolge dieser Minderjährigen als "Schmunzelbuch" veröffentlicht (ähnlich schockierend für die ehrbare Ge­sellschaft war Halbritters "Rue de Plaisir"!). Diese Minderjährige mit ihren spindeldürren Beinen und dem Froschmaul -
­alles andere als ein Sex-Idol - ist eine durchtriebene Kröte, die Männer zwischen 12 und 82 zum Schwitzen und Frauen jeder Altersstufe zur Ver­zweiflung bringt. Welche Eltern können ihre Fassung noch bewahren, wenn die hoffnungsvolle Kleine die Ansicht äußert, sie sei "zur Sünde geboren" und werde den Beruf der Prostituierten erwählen? Kurt Halbritter hat auch die Gestalt des schüchtern-sanften Strafgefan­genen Johannes erfunden, der seinem tristen Leben hinter Gittern zarte Schönheiten und poetische Erlebnisse abzugewinnen weiß (leider "nur" Car­toons!). Ganz

© 1975 Carl Hanser Verlag
© 1979 Wilhelm Heyne Verlag
anders Halbritters Murder-Brothers
- vier durchaus originelle Ty­pen -, die als Berufskiller ihren Lebensunterhalt verdienen, auf den Nerven der Polizisten herumtrampeln und nur vor den vier Murder-Sisters in pani­scher Angst flüchten.
Den Deutschen hat Kurt Halbritter ein Werk hinterlassen, dem man Un­sterblichkeit wünschen möchte. Es heißt "Adolf Hitlers Mein Kampf" und analysiert eine "Große Zeit" scharfsichtig und schonungslos. Hier erweist sich der Karikaturist als moralische Instanz und "Lehrer der Nation". Hit­lers "Mein Kampf" war in den Zeiten des Dritten Reichs für jeden deut­schen Haushalt vorgesehen. Halbritters aufklärerisches Werk sollte minde­stens bei jedem Bildungsbürger im Bücherschrank neben Goethes "Faust" und Heines "Deutschland - ein Wintermärchen" stehen. So könnte der Künstler über seinen Tod hinaus geehrt werden.
 
Chas Addams - noch einen Strich schwärzer

"Schwarzer
Humor" aus England - wir warfen einen Blick auf Ronald Searle und die reizenden Zöglinge von St. Trinian. Aber wieviel schwärzer ist der Humor der Amerikaner Chas Addams (1912-1988) und Edward Gorey (1925-2000)! Addams erwarb sich den Namen eines "Dracula des
 
© 1963 Diogenes
Zeichenstifts" mit ma­kabren Szenen in einer völlig normalen Welt. Während die Gattin hinge­bungsvoll das Abendprogramm des Fernsehens genießt, mauert der Ehemann
die Tür zu. Elegant gleitet ein Paar mit Schlittschuhen über die Eisfläche. Der Mann hält ihre beiden Hände; eine dritte ruht auf ihrer Hüfte. Der kleine Pfadfinder belehrt den zum Letzten entschlossenen Vater: "He Paps, der Henkerknoten geht doch anders."
Addams hat eine gespenstische Familie geschaffen, die Geschichte gemacht hat. Die monsterhaften Geschöpfe können einem Schrecken einjagen. Wie gefährlich selbst die Kinder sind, zeigt der Hinweis der Mutter an die Ba­by-Sitterin: "... und bleiben sie dauernd mit dem Rücken zur Wand." Leider hat Addams das Genre der Comic-Strips ohne Worte vernachlässigt.
 
Das Düstere bei Edward Gorey

Düster, spukhaft, unheimlich tauchen die Gestalten von Edward Gorey aus dem Dunkel und dem Nebel. Sie scheinen aus dem viktorianischen Zeitalter zu stammen. "Es war inzwischen beinahe Donnerstag, und noch immer hatte man die Beinprothese seiner Durchlaucht, des Herrn Grafen nicht gefun­den" beginnt eine seiner Geschichten in Bildern ("Ein sicherer Beweis", Übersetzung von Wolfgang Hildesheimer).
 
Wer auf gut bekömmliche Unterhaltung erpicht ist, wird sich schaudernd abwenden. Schreckliche Geheimnisse lauern in allen Ecken und Winkeln, Rätselhaftes kündigt sich an und vollzieht sich mit grausiger Konsequenz. Oskar Kokoschka nannte die ebenso furchterregend-morbiden wie grotesk­ skurrilen Werke des kauzigen Künstlers "sublim, absurd und mystisch." Nachdem in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der Diogenes-Verlag in seiner Kleinbuchreihe "Diogenes Tabu" mehrere Geschichten von Edward Gorey veröffentlicht und weitaus mehr Entzücken als Entsetzen beim Publi­kum ausgelöst hatte, mutete sogar die deutsche Wochenzeitschrift "Die Zeit" in den 70er Jahren ihrer Leserschaft Goreys Bilderfolgen zu. Das Vertrauen auf die Abgründe im Menschen und auf seine ausschweifende Phantasie zahlte sich aus. Die Fan-Gemeinde wuchs und wuchs, und in der Tat waren die im Stil des fin de siede angelegten Bilder mit ihrer an Alfred Kubin erinnernden düsteren und unheilschwangeren Atmosphäre glänzende Beweise großer Zeichenkunst. Besonderen Erfolg hatten die Geschichten "Der zweifelhafte Gast" und "Eine Harfe ohne Saiten."

 
© Joachim Klinger
Eines Abends stellt sich bei einer vornehmen Familie ein pechschwarzes Wesen, eine Mischung aus Pinguin und Golfschläger, ein, angetan mit einem langen gestreiften Schal und weißen Tennisschuhen. Hartnäckig quartiert es sich in der Villa ein und befremdet durch absonderliches Gebaren. Bei­spielsweise verspeist es Geschirr, stellt sich in den Kamin und behindert das Bad am Samstag durch Beseitigung der Trockentücher. Lästiger Scha­bernack und permanente Störungen begleiten das Familienleben durch die
Jahre, wobei die Furcht vor schlimmeren Überraschungen immer mit­schwingt. Wird der Gast niemals Abschied nehmen? Der lapidare Schluß macht wenig Hoffnung:
"Siebzehn Jahre genau sind es her, daß er kam, und es scheint, dass er bleibt, so wie er sich benahm."
"Eine Harfe ohne Saiten" schildert den Entstehungsprozeß eines neuen Buches, mit dem der Autor Ronald Frederic Melf schwanger geht. Welche Qualen, Albträume und Halluzinationen bedrängen den Schriftsteller, bis sein Werk herangereift ist! Obwohl man sich auch die in stumme Einzelbilder zerlegte Horror-Story vorstellen kann, Edward Gorey hat sie uns nicht geliefert. Wir dürfen ihm im Blick auf sein umfangreiches Œuvre deswegen nicht gram sein. Dies gilt umso mehr, als wir ihm eine neue Kategorie von Bildergeschichten verdan­ken: die Grusel-Story auf literarischem Niveau.
 
Topor und das Makabre

Wenn es um "Schwarzen Humor" geht, darf der in Paris geborene französi­sche Künstler Roland

© Joachim Klinger

© 1987 Diogenes
Topor (1938
-1997), Sohn polnischer Einwanderer nicht ausgelassen werden. Er hat zwar keine Comics gezeichnet, aber seine stummen Cartoons halten alb­traumartige Zustände fest. Monströses erscheint, Obszönes geht vor sich, Abstruses taucht auf und versinkt in dichter Dunkelheit, die alle Gestalten umgibt. Kubins Welt weitergedacht - das ist Topors finsterer Bezirk. Man mag diesen schwarzen Humor abgründig bis abstoßend nennen, manche Car­toons als schlechthin schockierend empfinden, Topor hat eigenwillige Ak­zente gesetzt und die düstere Szenerie um schwarze Tupfer bereichert. Zwei Publikationen seien stellvertretend für viele angeführt: "Die Masochi­sten" und "La Grande Macabre“.



Literaturempfehlungen:
Bosc - "Kalte Füße und andere Cartoons" - 1964 Diogenes Verlag Zürich
James Thurber - "Rette sich, wer kann!" - 1948 Rowohlt Verlag Stuttgart, Hamburg, Baden-Baden
Saul Steinberg - "Allinline - Cartoons" - 1947 Penguin Books New York
Kurt Halbritter - "Tagebuch einer Minderjährigen" - 1965 Bärmeier & Nikel Frankfurt/M.
Kurt Halbritter - "Adolf Hilters Mein Kampf" - 1975 Carl Hanser Verlag / 1979 Heyne TB 5564
Ronald Searle - "Back to the Slaughterhouse" - 1951 Macdonald London
Chas Addams - "Es war einmal..." - 1963 Diogenes Verlag Zürich
Chas Addams - "The Penguin Chas Addams" - 1963 Penguin Books Harmondsworth
Roland Topor - "Der schönste Busen der Welt" - 1987 Diogenes Verlag Zürich

© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Folgen Sie nächsten Sonntag weiter dem Vater der Geschichten von "Julle und Vatz" bei seinen Betrachtungen über Bildergeschichten, Comics und Cartoons.

Redaktion: Frank Becker