Ukrainische Literatur
in diesen Tagen des Kriegs
Von Michael Zeller
Im dritten Quartal 2024 haben die horen – „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik” – ein umfangreiches Heft ganz der ukrainischen Literatur gewidmet. „weil die Wunden Vögel werden“ Landschaften der Ukraine. So heißt sein Titel.
Ukrainische Literatur: Das ist ein historisch schwer belasteter Begriff. Sehr lange ist es noch nicht her, daß man in Deutschland weiß, daß das Ukrainische nicht ein russischer Dialekt ist, sondern eine eigene Sprache, mit einer hochinteressanten, äußerst eigen-sinnigen Literatur – seit Jahrhunderten, älter übrigens als die russische. Sie hatte allerdings das Pech, von dem nördlichen Nachbarn immer wieder unterdrückt und verboten zu werden. Ukrainische Dichter, die es wagten, ihre Sprache zu benutzten, wanderten ins Gefängnis, wurden gefoltert, umgebracht. Oder man zwang sie, wie den Ukrainer Hohol, bekannt unter dem russifizierten Namen Gogol, auf Russisch zu schreiben. Der aktuelle russische Gewaltherrscher, der derzeit mit Vorliebe ukrainische Bibliotheken und Museen zerstören läßt, steht damit in der langen Ahnenreihe von Zaren und kommunistischen Diktatoren eines Monstrums, das sich „Sowjetunion“ nannte.
„weil die Wunden Vögel werden” umfaßt die Texte von etwa zwanzig ukrainischen Autoren und Aurtorinnen. Sie sind neuesten Datums und thematisieren deshalb alle – wie sollte es anders sein – den Krieg, den der nördliche Nachbar im Februar 2022 in ihr Land getragen hat. Zehntausende Ukrainer sind ihm bereits zum Opfer gefallen, auch zwei der in den „Horen” aufgeführten Autoren, die sich freiwillig an die Front gemeldet hatten (neben unzähligen anderen Schriftstellern und Künstlern.)
Deshalb dominiert in dem Heft die Lyrik. In Gedichtform lassen sich die Eindrücke spontaner und rascher festhalten als in erzählender Prosa, wo man doch einen längeren Atem braucht. Und auch diese Gedichte legen nicht, anders als man es sonst von der ukrainischen Lyrik gewohnt ist, den größten Wert auf formal strenges Durcharbeiten. Es geht ihnen um Wichtigeres. Man spürt, daß sie in bedrängten Situationen niedergeschrieben sind: „Stets in Erwartung einer Explosion / Stets in Bereitschaft”, wie es in einem der Gedichte heißt. Von dichterischer „Muße” zu reden, wäre in dem Zusammenhang mehr als unpassend – es klänge fast zynisch.
Von Olena Herasymjuk stammen auch die folgenden Verse:
Kaum hatte ich das Papier berührt,
wusstest du schon, wie schwierig es jetzt ist,
Sujets zu finden,
sogar für persönliche Briefe,
Wörter, die wir zu wechseln gewohnt waren,
gehören der Vergangenheit an.
Seit Kriegsbeginn dient Olena Herasymjuk – freiwillig natürlich – in dem „Sanitätsbataillon Hospitaliter”, holt die Verwundeten direkt von der Frontlinie ab. Das Sinnlose, Sinnwidrige festzuhalten – so gehört das Schreiben von Gedichten sicher mit zu ihrer Überlebensstrategie. Doch die „Wörter, die wir zu wechseln gewohnt waren, / gehören der Vergangenheit an”. Und auch die Gedichte:
„Ich bin Dichterin, die unsichtbare Verse schreibt
für meine getöteten Leser”.
*
Hanna Osadko hat gleich zu Beginn des Krieges ihren Mann verloren, Vater ihrer beider Kinder:
„Lösche / sein Konto / in den sozialen Medien, / lösche / seine Telefonnummer, / seine Stimme, / die wie ein rotes Rinnsal in den Hörer tropfte / und / durch den freien Kanal des Himmels / flüchtete, / als er zwischen den Sonnenblumen starb / und zu dir sprach, / Frau”
*
Vielleicht ist es kein Zufall, daß die wenigen längeren Prosatexte von Frauen stammen, die mit ihren Kindern die ukrainische Heimat verließen, nachdem ihre Männer sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatten.
Von Khrystyna Koslowska stammt die skurril-spannende Erzählung „Trugbild” – die Geschichte einer Blutsäuferin, die Männer verfolgt. Khrystyna Koslowska stammt aus der Westukraine und lebt mit ihrer kleinen Tochter derzeit als Stipendiatin der Kulturstiftung Sachsen in Leipzig, wo sie im Auftrag der Stadtbücherei eine ukrainische Bibliothek aufbaut.
Natalka Sniadanko aus Lwiw/Lemberg, von der bereits zwei ihrer Romane ins Deutsche übersetzt vorliegen, stellt Fragmente aus ihrem neuen Roman vor, „Frauen mit leichtem Gepäck”. Darin spricht sie von ihren Erfahrungen, die sie als Flüchtling in Deutschland gesammelt hat. Sie lebt als Gastautorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.
*
Zurück zur Lyrik und in die Brutalität des russischen Kriegs in der Ukraine.
… meine abgerissenen Arme
kommen wieder
als Veilchen im Frühling
meine Beine
verschleppen Hunde und Katzen
mein Blut
färbt die Welt in ein neues Rot
…
wäre doch bald Frühling
damit ich endlich
als Veilchen
aufblühe
Diese hingefetzten Verse hat der Lyriker Maksym Krywtsow an der Front geschrieben, Anfang Januar 2024. Den Frühling, den er darin herbeiwünschte, hat er nicht mehr erlebt. Zwei Tage nach Niederschrift dieser Zeilen war er tot - gefallen mit 33 Jahren, an der Kampflinie vierzig Kilometer von Rußland entfernt. Wenige Tage davor hatte der ukrainische PEN seinen Gedichtband in die Liste der besten ukrainischen Bücher des vergangenen Jahres 2023 aufgenommen.
Krasser läßt sich der Widersinn dieses wie jedes Krieges wohl kaum fassen.
„weil die Wunden Vögel wurden” – die horen 295 sind ein bedrückendes, ein notwendiges Heft.
Wir brauchen mehr davon!
die horen 295: „weil die Wunden Vögel werden” - Landschaften der Ukraine
Zusammengestellt von Halyna Petrosaniak und Natalka Sniadanko
Reihe: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Bd. 295, 69. Jahrgang
© 2024 Wallstein Verlag Göttingen, 208 Seiten, Broschur 15,5 x 23,5 cm, 40 Abbildungen - ISBN 978-3-8353-5563-7 14 Euro
Weitere Informationen: www.wallstein-verlag.de
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