Aus den Notizen eines Unbehausten
Kiev Stingls feuilletonistischer Nachhall
Nach meinem Tod, dachte der Poet voller Verachtung,
werden junge Fremde meine Poesie anhimmeln. Und
erst dann werden auch die Dreckskerle dran schnüffeln,
als sei ich immer schon einer der ihren gewesen.
Saupack.
Es muß an die 45 Jahre oder mehr her sein, als sich in meiner Stammkneipe ein unscheinbarer angeschickerter Bursche an der Theke neben mir auf einen Hocker schob und eine erst zähe, dann tiefsinnige Konversation mit mir begann, die damit endete, daß wir beide betrunken waren und um keinen Fitz klüger. Ich hatte Kiev Stingl kennengelernt, wie mir der Zapfer erklärte. Das war meine einzige Begegnung mit dem Songpoeten, den ich natürlich durch den Film „Gibbi Westgermany“ von Christel Buschmann kannte, aber nicht erkannt hatte. Nun liegt das letzte Buch Kiev Stingls auf meinem Tisch, das er im Alter von 81 Jahren noch vor seinem Tod am 20. Februar dieses Jahres dem Flur Verlag übergeben konnte, „Mein Collier um deinen Hals“.
In der Anbetung der dünnen Frau, dachte er, feiert die Moderne
Ihr erstes menschliches Kunstwesen. Das Weib nicht mehr als
üppige Frucht, sondern als Oblate. Zum An-die-Wand-Kleben.
Als Karikatur. Gibt es eine höhnischere Weise, sich aus der
Natur stehlen zu wollen?
Es ist auf 64 Seiten und in 106 Notizen Kiev Stingls feuilletonistischer Nachhall, eine sehr persönliche Zusammenstellung von auf Zetteln festgehaltenen Beobachtungen, Anmerkungen und Gedankensplittern, von Auszügen aus Manuskripten und Büchern. Die überwiegend kurzen Texte, oft nur ein Satz, haben vor allem in den längeren Abschnitten ganz offensichtlich den Charakter von Tagebucheintragungen, in denen häufig ein Dritter, ein „Er“ als Urheber von Erkenntnissen und Überlegungen eingeführt wird – eindeutig Kiev Stingl selbst. Wer ihn gekannt hat, wird ihn hier sicher wiedererkennen, doch auch für den unvorbereiteten Leser tun sich markante Reflexionen auf, die von überraschender Allgemeingültigkeit sind. Er äußert in deutlicher Sprache seine Weltzweifel und Selbstanalysen, übt Kritik an der Maßlosigkeit der Gesellschaft, reflektiert oft und tief über das Wesen von Liebe und Lust und die Sterblichkeit und läßt bitteren Witz einfließen.
Daß in der leidenschaftlichen Liebe erst sich Freiheit erfüllte,
welcher verliebte Dummkopf hoffte dies nicht. Dabei ist sie
der größte Kerkermeister unter der Sonne.
-.-.-.-.-.-.-
Seit ich lebe, bin ich ein Träumer. Wenn ich träume, taumel
ich vor Glück. Ich bin begnadet, dachte er dann und taumelte
noch mehr vor Glück. Und kam so unter die Räder.
-.-.-.-.-.-.-
Unsinn, dachte er zehn Minuten später, als Lolita reinkam
und ihn hingebungsvoll anhimmelte, sie ist blöd wie Stroh,
aber sie liebt mich abgöttisch, hm, was also?
Gelegentlich datiert, jedoch in willkürlicher Folge öffnen die hier wie ein Vermächtnis zusammengefügten Texte einen letzten Blick in das Denken und Fühlen eines Wanderers, eines Unbehausten, der einiges zu sagen hatte. Ein lesenswertes Gedanken-Kompendium.
Ich habe mein ganzes Leben dazu gebraucht,
der zu werden, der ich immer schon war.
Kiev Stingl – „Mein Collier um Deinen Hals“
Gedankensplitter
© 2024 Flur Verlag, 64 Seiten, Klappenbroschur, 13,5 x 16 cm - ISBN 978-3-98965-200-2 12,00 € (D) Weitere Informationen: www.flurverlag.de
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