Elfter Gesang
                         
                        Als kennten wir uns schon ein Leben
                        so vertraut ist mir der Mann
                        dem ich noch nie begegnet bin
                        Bloß auf ein paar kleinen Fotos
                        in Schwarz-Weiß. Da war ich Kind
                        und er ein junger Fußballspieler
                        Weißes Leibchen, mit dem Adler
                        knielang fast die schwarze Hose
                        in der Stirn das dunkle Haar
                        sein Mund steht offen, ist verzerrt
                        Arm an Arm mit einem Ungarn
                        ernst und angestrengt auch der
                        Das Objekt, worum sie eifern
                        hält die Kamera nicht fest
                        Nur der Moment des Kampfs ist wichtig
                        da sich zwei junge Männer messen
                        konzentriert und ganz bei sich
                        auf der Höhe ihrer Kraft
                        nach den festgeschriebenen Regeln
                        Die Arme bleiben aus dem Spiel
                        angelegt, sie sind tabu
                         
                        Ein zweites Foto, das ich sah
                        als ich gerade lesen konnte:
                        Der Jüngling in dem weißen Sporthemd
                        der in der Tür jetzt vor mir steht
                        als ein Mann von sechzig Jahren -
                        Ich sah ihn in der Hocke sitzen
                        hockt da mit anderen seiner Art
                        die Haare aus der Stirn gestrichen
                        verschwitzt und regennass und lacht
                        wie alle anderen um ihn
                        Elf Männer. Alle lachen sie
                        Glück in ihr Gesicht geschrieben
                        Erschöpfung in den hohlen Wangen
                        Zweifel auch zeigt dieses Lachen
                        Ist’s denn wirklich – WIRKLICH wahr?
                        Sind wir Opfer, sind wir Täter?
                        Macht sich jemand einen Spaß
                        ruft nachher „April, April!“?
                        Hat gerad ein Wunder stattgefunden?
                         
                        Beinah vierzig Jahre später
                        steht er leibhaftig in der Tür
                        Klar, das ist er. Keine Frage
                        auch ohne dieses junge Lachen
                        Um den Mund, der vage lächelt
                        sind scharf die Kanten eingeschnitten
                        und ein flaches, fernes Lächeln
                        Mehr als neunzig Minuten Mühsal
                        ist in dem Gesicht vergraben
                        Der knallbunte Trainingsanzug
                        neuester Machart sieht salopp aus
                        doch die Zerbrechlichkeit der Jahre
                        kann selbst das kühnste Sportdesign
                        nicht aus unseren Körpern drängen
                        Ja, auch Fußballgötter altern
                         
                        Charly Mai war Außenläufer
                        Vor der Abwehr spielte er
                        defensives Mittelfeld
                        Sándor Kocsis war sein Mann
                        im legendären Berner Endspiel
                        am vierten Juli Vierundfünfzig
                        den er kaltzustellen hatte
                        „Goldköpfchen“ nannten ihn die Ungarn
                        trotz seines dunkelbraunen Schopfes
                        denn mit dem Kopf, kaum mit den Füßen
                        machte er seine vielen Tore
                        Elfmal schon hatte er getroffen
                        bisher bei diesem Weltturnier
                        mit weitem Abstand Schützenkönig
                        „Bei mir hat der kein Tor gemacht“
                        stellt Karl Mai fest. Lächelt nicht
                        „Und heute ist der Kocsis tot“
                        Beides von weither gesagt
                        als käm’s aus einem anderen Leben
                        „Man war so auf den Mann gedrillt
                        den man auszuschalten hatte
                        daß man gar nicht mitbekam
                        wie das Spiel da vorne ablief“
                         
                        Wir sitzen in Mais Party-Keller
                        Mein Gott, so etwas gibt es noch?
                        Wuchtig die Hausbar, Eichenbalken
                        und alle Wände holzverschalt
                        Viel Platz für Wimpel und für Fotos
                        natürlich aus dem Heldenleben
                        Die Gesichter kenn ich alle
                        besser als die meiner Onkel
                        haben sich mir eingebrannt
                        die werde ich wohl nie mehr los
                        „Und heute? Gehen Sie noch ins Stadion
                        von Ihnen aus kaum zehn Minuten?“
                        „Wenn man die heute spielen sieht - “
                        Karl Mai winkt ab. Der Satz bleibt offen
                        „Macht einer mal ein gutes Spiel
                        ist gleich ein neuer Star geboren
                        Ein Star! Vielleicht im Geldverdienen …
                        Stecken Millionen in die Tasche
                        So gut kann einer gar nicht sein
                        Fußball ist doch Mannschaftssport
                        Bei uns gab’s damals keine Stars
                        Die Schuhe putzten wir uns selber
                        als wir in Bern Weltmeister wurden“
                         
                        „Fritz Walter?“ klopf ich leise an
                        „Der war der Liebling, klar, vom Chef
                        und auch der Rahn durft mehr als andere
                        Wenn der um sechs Uhr in der Früh
                        herumschrie, daß die Wände wackeln
                        dann hieß es bloß: Na, ja, der Boss
                        der Helmut eben. Ja, der Chef …
                        Wenn ein anderer aus der Mannschaft
                        so auf den Putz gehauen hätte - “
                         
                        „Und Ihr Verhältnis zu dem Trainer?“
                        „Respektsperson! Gar keine Frage
                        Autorität, da gibt es nix!“
                        Trocken kommt der Kommentar
                        Unbewegt bleibt seine Miene
                        die Stimme in der gleichen Lage
                        als hätt’ das nichts mit ihm zu tun
                        Sein Lachen aus den Schweizer Tagen
                        hat sich aus dem Gesicht verloren
                        kein Mal erkenn ich’s heute wieder
                        Vorbei die Zeit in kurzen Hosen
                         
                        „Und Sie persönlich?“ will ich wissen
                        „Hab halt den Mund nie halten können
                        auch wenn der Herberger dabei war
                        Vor irgendeinem Länderspiel
                        gegen Frankreich, glaub ich, ging’s
                        da saßen wir beim Abendbrot
                        Kalten Braten gab’s auf Platten
                        dazu Selters, Ehrensache
                        Da hab ich halt die Hand gehoben
                        weit oben saß der Chef am Tisch
                        und nickt freundlich zu mir runter 
                        ’Was habbe Se denn uff’m Herze?’
                        Ob ich ein Bier bestellen darf
                        damit der Braten besser rutscht
                        Keiner sonst hat sich gemeldet
                        ‚Ja, Charly, trinke Se Ihr Bier’
                        Und jeder aus der Mannschaft, alle
                        haben sich dann ein Bier bestellt
                        Ich hätt halt öfter schweigen sollen“
                         
                        „Beim nächsten Weltturnier, in Schweden
                        haben Sie da noch mitgespielt?“
                        Der defensive Außenläufer
                        scheint immer noch in ihm zu schlummern
                        Hart und kantig, unbeugsam
                        hat er seinen Part gespielt
                        niemals locker. Lockerlassen
                        durfte er als Spieler nicht
                        und wurde seine Lebenshaltung
                        Stimme, Miene unverändert
                        „Ausgebootet haben sie mich
                        Ich hatte Ärger im Verein
                        hier in Fürth. Ein neuer Trainer
                        Da ist es mir zu dumm geworden
                        und ich ging weg, zu Bayern München
                        Dem Herberger hat’s nicht gefallen
                        war halt eigen in so Sachen
                        und ich war aus der Mannschaft draußen“
                         
                         
                        „Das Ausland hat Sie nie gereizt?“
                        „Da gab’s so einen Italiener
                        aus Genua kam der, bot mir an
                        bei der Sampdoria zu kicken
                        Dafür hatten sie die Regel extra
                        im Deutschen Fußballbund gemacht
                        Wer Vierundfünfzig mit dabei war
                        und noch unter dreißig Jahren
                        den haben sie nicht ziehen lassen
                        Verzinkte Hunde waren das schon“
                         
                        Selbst bei diesem derben Wort
                        bleibt die Stimme, wie sie war
                        Immer noch der Außenläufer
                        die Defensive Fleisch geworden
                        Keiner sprengt die Deckung auf
                        da war nicht nur der Kocsis machtlos
                         
                        „Haben Sie Kinder?“ fällt mir ein
                        „Einen Chow Chow. Bubi heißt er
                        buddelt gerad den Garten um
                        Wollen Sie die Blumen sehen?
                        Das ist unser ganzer Stolz“
                        Auf der Terrasse stehen wir
                        im Garten vor uns Frühlingsblühen
                        noch abgedeckt das Schwimmbassin
                        Unterm Flieder macht Frau Mai
                        dem Boden Luft mit einer Hacke
                        und „Bubi“ zeigt die blaue Zunge
                        „Mein Garten“, sagt Karl Mai. „Mein Garten!“
                        im gewohnt staubtrockenen Ton
                        Ob Helden, frag ich mich jetzt doch
                        wohl nie Gefühle zeigen dürfen?
                        „Hier ist ständig was zu richten
                        Da reiß ich lieber Unkraut raus
                        als daß ich zum Ronhof geh“
                        Er nickt zum Stadion nebenan
                        von wo wir junges Schreien hören
                         
                        „Wir hatten dreißigtausend Leute
                        in meiner Zeit, als ich noch da war
                        und spielten immer vorne mit
                        dreimal um die Meisterschaft
                        Damals haben sie geschlafen
                        die alten Herren im Verein
                        sind auf dem hohen Ross gesessen
                        und keine Mark wurd investiert
                        Damals fing das Unheil an
                        Dreihundertzwanzig Mark im Monat
                        das war alles, was ich sah
                        weil’s halt in den Statuten stand
                        In der Großstadt lief das anders
                        die haben tüchtig investiert
                        und heute stehen sie alle oben
                        Hamburg. München. Wo steht Fürth?
                        Da bin ich weg, zu Bayern München
                        Die wußten, was ein Spieler wert ist.
                         
                        „Hier. Die Tulpen kommen nicht
                        Ich hab die Zwiebeln drin gelassen
                        über Winter, das war falsch
                        Wie eine Eins sind die gestanden
                        das ganze Beet, im letzten Jahr
                        Den Fehler mach ich nicht noch mal
                         
                        „… Der Herberger – wenn ich so denke
                        ist schon ein krummer Hund gewesen
                        Fünftausend Mark als Titelprämie
                        sollten wir nach Bern bekommen
                        Wie ist der Alte hochgegangen
                        und hat getobt und Zeuch und War’
                        Vorschriften waren dem halt heilig
                        da kannte der Herberger nix
                        Fünfzehnhundert wurden’ s dann
                        für jeden einzelnen von uns
                        Mehr war nicht drin nach den Statuten
                         
                        „Wir waren gerade frisch vermählt
                        meine Frau und ich, im Herbst
                        Jeden Pfennig brauchten wir
                        unsere Wohnung einzurichten
                        Fünftausend Mark, das hätt gereicht
                        für Möbel, was man halt so braucht
                        Bis zuletzt hab ich gehofft
                        daß der mal Memoiren schreibt
                        wenn er nicht mehr Trainer ist
                        Ein Renner wäre das geworden
                        so berühmt wie der doch war
                        fast mehr noch als der Adenauer
                        und würd das Geld uns Spielern geben
                        Wir haben ihm Erfolg gebracht
                        wir elf Spieler. Wer denn sonst?
                        So ein schöner Batzen Geld“
                         
                        Das sagt der Berner Wunder-Mann
                        vierzig Jahre nach dem Endspiel
                        Für immer bleibt er Außenläufer
                        vor der Abwehr, defensiv
                        blieb’s bis zum letzten Atemzug
                        Der Kocsis hat ihn heimgeholt
                        in den Olymp für Fußballspieler
                        er brauchte seinen Gegenpart
                        Allein kann man nicht Fußball spielen
                        Im Jenseits wird’s kaum anders sein -
                        Sonst lohnt es sich ja nicht zu sterben
                         
                         
                        © Michael Zeller
                         
                        
                        
                        (Erstveröffentlichung in den Musenblättern)